Tagung »text | text | text« | Vortrag

»Gebraucht sind die Gedankensachen schon alle«

Über Originalität und Nachahmung

Von Gert Ueding


Im Rah­men der Tagung »text | text | text – Zitat, Refe­renz, Pla­gi­at und ande­re For­men der Inter­tex­tua­li­tät« trug Gert Ueding am 11. Juni 2016 das unten­ste­hen­de Manu­skript vor.

Sehr geehr­te Damen und Herren,

die pas­sio­nier­ten Wil­helm-Busch-Leser unter Ihnen haben die bei­den Titel-Ver­se mei­nes Vor­trags längst erkannt. Sie bil­den den Schluss eines Gedich­tes, das Busch in dem spä­ten schma­len, 1904 erschie­nen Bänd­chen »Zu guter letzt« auf­ge­nom­men hat – sein Titel: »Erneue­rung«. Es berich­tet von einer reso­lu­ten Mut­ter, die aus einem alten Klei­der­schrank einen abge­tra­ge­nen »Schwal­ben­schwanz«, einen Frack also, her­aus­holt: »Ihn trägt sie klug und über­legt / Dahin, wo sie zu schnei­dern pflegt, / und trennt und wen­det, näht und mißt, / Bis daß das Werk voll­endet ist. // Auf die Art aus des Vaters Fra­cke / kriegt Fritz­chen eine neue Jacke. // Grad so behilft sich der Poet. / Du lie­be Zeit, was soll er machen? / Gebraucht sind die Gedan­ken­sa­chen / Schon alle, seit die Welt besteht.«

Das sind in schöns­ter Busch-Art gereim­te »bumm­li­ge Ver­se«, die nicht nur das eige­ne poe­ti­sche Ver­fah­ren ver­schmitzt kari­kie­ren, son­dern weit dar­über hin­aus rei­chen, wei­ter, als der immer noch als deut­scher Haus­hu­mo­rist ver­kann­te Dich­ter und zu sei­ner Zeit avant­gar­dis­ti­sche Maler wohl sel­ber beab­sich­tigt hat. Das ältes­te uns bekann­te Zeug­nis sol­chen Den­kens stammt aus Ägyp­ten, und zwar, man kann es sich kaum vor­stel­len, aus dem 2. Jahr­tau­send vor Chris­tus. »Oh, daß ich unbe­kann­te Sät­ze hät­te, selt­sa­me Aus­sprü­che, / neue Rede, die noch nicht vor­ge­kom­men ist, / frei von Wie­der­ho­lun­gen, / kei­ne über­lie­fer­ten Sprü­che, die die Vor­fah­ren gesagt haben./ Ich wrin­ge mei­nen Leib aus und was in ihm ist / und befreie ihn von allen mei­nen Wor­ten. / Denn was gesagt wur­de, ist Wie­der­ho­lung / und gesagt wird nur, was (schon) gesagt wurde.«

Der anony­me Autor die­ser Zei­len hat ersicht­lich den Weg noch nicht ent­deckt, den Wil­helm Buschs Erneue­rungs­künst­le­rin weist. Es ist aber der­sel­be Topos, dem wir in bei­den Fäl­len begeg­nen, er wan­dert durch die Jahr­tau­sen­de, sei­ne Spu­ren fin­den wir über­all. Bei Goe­the, wenn er pro­vo­zie­rend fragt: »was kön­nen wir denn unser Eige­nes nen­nen, als die Ener­gie, die Kraft, das Wol­len!« Oder in Ionescos Wor­ten, bei dem wir das sicher nicht erwar­tet hät­ten: »Das Thea­ter hat sich im Grun­de (seit der Anti­ke) nicht ent­wi­ckelt.« Und es ist durch­aus nicht nur die Lite­ra­tur, die die­se Über­zeu­gung mit nur kur­zen Unter­bre­chun­gen bis heu­te kon­ti­nu­ier­lich kon­sta­tiert oder beklagt. Zum geflü­gel­ten Wort wur­de etwa Alfred Whit­eheads Dik­tum: »Die sichers­te all­ge­mei­ne Cha­rak­te­ri­sie­rung der phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on Euro­pas lau­tet, daß sie aus einer Rei­he von Fuß­no­ten zu Pla­ton besteht.«

Die Streif­lich­ter mögen uns genü­gen. Die mehr oder weni­ger resi­gna­ti­ve Dia­gno­se bewegt sich immer in dem topi­schen Feld, das schon der ägyp­ti­sche Autor vor über 4000 Jah­ren abge­steckt hat. Umso mehr über­rascht es, wenn erst ziem­lich spät, soweit wir für ein sol­ches Urteil hin­rei­chen unter­rich­tet sind, näm­lich im 5. Jahr­hun­dert vor Chris­tus, und zwar auf einer klei­nen Land­zun­ge des asia­ti­schen Kon­ti­nents, man als Anti­dot gegen sol­che meist nie­der­drü­cken­den Erfah­run­gen von Red­nern, Dich­tern, Phi­lo­so­phen eine Kunst­leh­re ent­wi­ckelt, die dem alten Pro­blem eine für uns über­ra­schen­de Wen­dung gibt, auch wenn sie natür­lich auf lang geüb­ter Pra­xis beru­hen wird. Denn weder beläßt sie es bei der Kla­ge über die fata­le Abhän­gig­keit von den unver­meid­li­chen Vor­gän­gern, noch negiert sie, wie das spä­te­re Epo­chen ver­su­chen und der ägyp­ti­sche Anony­mus es sich wünscht, die unlös­ba­re Ver­qui­ckung jeder geis­ti­gen Pro­duk­ti­vi­tät in das von alters her immer schon Über­lie­fer­te. Die neue Dok­trin gewinnt aus dem »Gebrauch­ten« (um noch in Buschs Ter­mi­no­lo­gie zu blei­ben) die Ele­men­te zu neu­em Werk und eta­bliert ein theo­re­ti­sches Prin­zip, eine neue künst­le­ri­sche Spiel­re­gel, ohne die jene Dis­kus­si­on über das Ver­hält­nis des Neu­en zum Alten seit­her nicht mehr geführt wer­den kann. Das geschah unter dem Druck umwäl­zen­der his­to­ri­scher Ver­än­de­run­gen, die aber wohl nötig waren.

Eine kur­ze Skiz­ze möge uns das klar machen. Die Fami­li­en­herr­schaft, die der Tyran­nis in Grie­chen­land vor­aus ging, hat­te ein ele­men­ta­res Inter­es­se an Brauch und Sit­te, am Fest­hal­ten des Alt­ver­trau­ten an der Wie­der­ho­lung und Ver­ste­ti­gung immer der­sel­ben fami­liä­ren Macht­ver­hält­nis­se. Die ihr fol­gen­de Tyran­nis prak­ti­zier­te dann schon Poli­tik als »metho­di­sches poli­ti­sches Han­deln« (Alfred Heuss), als plan­vol­les, sach­li­ches staat­li­ches Agie­ren, in dem die Rück­sicht auf die jeweils aktu­el­len sozia­len und ideo­lo­gi­schen Gescheh­nis­se auch einen Wan­del im Ver­hält­nis zum Über­lie­fer­ten ein­schloss: Dies ver­lor sei­ne alles­be­stim­men­de Macht, hat­te sich also unter neu­en Anfor­de­run­gen zu bewäh­ren und konn­te nicht ein­fach fort­ge­schrie­ben werden.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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