Symposion »Affekte und ihre Wirkung« | Essay

Affektenlehre und orektische Filmanalyse

Versuch einer Konjektur

Von Matthias Bauer


Im Rah­men des Sym­po­si­ons »Affek­te und ihre Wir­kung«, das an der Fach­hoch­schu­le Kiel am 1. Mai 2015 ver­an­stal­tet wur­de, hielt Mat­thi­as Bau­er einen Vor­tag auf der Basis des fol­gen­den Essays.

Lan­ge Zeit wur­de im Film mehr eine Jahr­markts­at­trak­ti­on als eine Kunst, mehr eine Mas­sen­wa­re als ein Erkennt­nis­mit­tel gese­hen. Als Reak­ti­on auf die­se Gering­schät­zung hat die Film­theo­rie der letz­ten 40, 50 Jah­re eini­gen Begriffs­auf­wand dar­auf ver­wen­det, dem beweg­ten Bild eine epis­te­mo­lo­gi­sche Funk­ti­on zuzu­schrei­ben, ja sogar zu behaup­ten, erst mit der Kine­ma­to­gra­fie sei es mög­lich gewor­den, die Welt als das zu den­ken, was sie doch eigent­lich sei, eine Art »Meta­film« der dau­er­haf­ten Ver­wand­lung, der schöp­fe­ri­schen Evo­lu­ti­on.[1] Obwohl Gil­les Deleu­ze, der die­se auf Hen­ri Berg­son zurück­ge­hen­de Sicht­wei­se im wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs durch­ge­setzt hat, auch vom »Affekt­bild«[2] spricht, nei­gen die For­sche­rin­nen und For­scher, die ihm fol­gen, mehr­heit­lich doch dazu, aus der sieb­ten Kunst ein Refle­xi­ons­me­di­um der Zeit zu machen und Aus­schau nach »Kris­tall­bil­dern«[3] zu hal­ten, die es, genau genom­men, nicht auf der Lein­wand oder auf dem Bild­schirm, son­dern nur im Bewusst­sein der Zuschau­er gibt – unter der Vor­aus­set­zung, dass sie den Film mit den Augen des fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen betrach­ten.[4] Aus­ge­blen­det wird dabei sowohl die älte­re Theo­rie des Films als auch die kul­tu­rel­le Pra­xis, die kei­nes­wegs nur in ihrer popu­lä­ren Form wesent­lich durch affek­ti­ve Momen­te bestimmt wird. Tat­säch­lich ist es dem Film gelun­gen, die rein aka­de­mi­sche Gegen­über­stel­lung von Emp­fin­den und Den­ken, Erregt-Wer­den und Bewusst-Sein pro­duk­tiv zu unter­lau­fen. Einem Film zu fol­gen, heißt kon­jekt­u­ra­le Auf­fas­sungs­ak­te an der Schnitt­stel­le von Bild- und Ton­ver­lauf zu voll­zie­hen und im Wech­sel­spiel von Dar­stel­lung und Vor­stel­lung, von Beob­ach­tung und Ein­bil­dung Bedeu­tungs­ge­hal­te zu ent­wi­ckeln, die weder von ihrer sinn­li­chen Gestalt noch von der spe­zi­fi­schen Fär­bung abse­hen kön­nen, auf die es der orek­ti­schen Film­ana­ly­se ankommt. Sie inter­es­siert sich vor allem für die rekur­si­ve Syn­the­se von Per­zep­ti­on, Affek­ti­on und Kognition.

Das klingt kom­pli­ziert, wird aber ein­sich­tig, sobald man den Grund­be­griff der Ore­xie ver­stan­den hat. Wir kön­nen uns sei­ne Bedeu­tung von einem Adjek­tiv ablei­ten, das noch heu­te in Gebrauch ist. Man sagt, jemand sein anorek­tisch, wenn er kei­nen Antrieb, kei­nen Appe­tit, kei­ne Lebens­geis­ter und kei­ne Bedürf­nis­se ver­spürt. Eine orek­ti­sche Film­ana­ly­se ist dem­zu­fol­ge eine, die Rück­sicht auf Bedürf­nis­se und Antrie­be, Wün­sche und Ängs­te nimmt, die Hand­lungs­im­pul­se und Affekt­be­trä­ge kennt, die sich akku­mu­lie­ren und jener eigen­ar­ti­gen Ener­gie­um­wand­lung unter­zie­hen las­sen, auf die bereits die anti­ke Rhe­to­rik und Poe­tik abge­ho­ben hat­te, bevor die moder­ne Ästhe­tik und Psy­cho­lo­gie auf sie zurück­ge­kom­men ist. Ob wir mit Nietz­sche von »Trans­fi­gu­ra­ti­on«[5] oder mit Freud von »Sub­li­ma­ti­on«[6], mit Pla­ton von »Eros«[7] oder mit Aris­to­te­les von »Kathar­sis«[8] spre­chen – wir wis­sen selbst dann, wenn uns Aus­drü­cke wie »Ver­klä­rung« oder »Erhe­bung« suspekt sind, ein­fach des­halb, weil wir es an uns selbst bemer­ken, sehr wohl, dass alle Kunst eine inne­re Ver­wand­lung aus­löst. Kunst berührt, spricht an und bringt »dunk­le Kräf­te« ins Spiel[9] – also sol­che, die ver­wor­ren oder vor­be­wusst sind. Wich­tig ist dabei zum einen der Objekt- oder Welt­be­zug, zum ande­ren aber die Erreg­bar­keit des Sub­jekts durch sinn­li­che Ein­drü­cke und Gefüh­le. Dies vor­aus­ge­setzt, gelangt man zu einer phä­no­me­no­lo­gi­schen Beschrei­bung, wie der fol­gen­den, die von Bern­hard Wal­den­fels stammt und sich kei­nes­wegs auf das Kunst­er­leb­nis beschränkt:

  1. [1] »Das mate­ri­el­le Uni­ver­sum, die Ebe­ne der Imma­nenz, ist die auto­ma­ti­sche Anord­nung der Bewe­gungs­bil­der. Dar­aus ergibt sich ein unge­wöhn­li­cher Vor­sprung Berg­sons: Er sieht das Uni­ver­sum als Film an sich, als Meta-Film (…).« Deleu­ze, Gil­les: Das Bewe­gungs-Bild. Kino 1. Über­setzt von Ulrich Chris­ti­ans und Ulri­ke Bokel­mann. Frank­furt am Main 1997. S. 88. 
  2. [2] vgl. Deleu­ze, Das Bewe­gungs-Bild, S. 96 f. 
  3. [3] vgl. Deleu­ze, Gil­les: Das Zeit-Bild. Kino 2. Über­setzt von Klaus Eng­lert. Frank­furt am Main 1997. S. 96 f. Eben­dort wird das Kris­tall­bild bestimmt als unteil­ba­re »Ein­heit eines aktu­el­len und ›sei­nes‹ vir­tu­el­len Bil­des.« (S. 108) 
  4. [4] Genau bese­hen, sind dies nicht die Augen, mit denen man die Welt sieht, jeden­falls schreibt Deleu­ze: »Das Kris­tall­bild war nicht die Zeit, doch man sieht sie im Kris­tall. Im Kris­tall gewahrt man die unab­läs­si­ge Grün­dung der Zeit, die achro­no­lo­gi­sche Zeit, den Kro­nos – nicht aber Chro­nos. Es ist das nicht-orga­ni­sche Leben, das die Welt umschließt. Und der Visio­när, der Sehen­de, ist der­je­ni­ge, der in den Kris­tall schaut und dabei des Ursprungs der Zeit als Tren­nung, als Spal­tung gewahrt wird.« Deleu­ze, Zeit-Bild, S. 112. Mit andern Wor­ten: Inso­fern das Kris­tall­bild die Grün­dung der Zeit offen­bart, kann es kein Gegen­stand der sinn­li­chen Wahr­neh­mung sein. Es zeigt sich, den pla­to­ni­schen Ideen ver­gleich­bar, nur in einer Art Wesensschau. 
  5. [5] Nietz­sche erläu­tert die­sen Begriff im 4. Abschnitt sei­ner Abhand­lung »Die Geburt der Tra­gö­die aus dem Geis­te der Musik« an einem Gemäl­de von Raf­fa­el. Vgl. Nietz­sche, Fried­rich: Sämt­li­che Wer­ke. Kri­ti­sche Stu­di­en­aus­ga­be in 15 Bän­den. Hrsg. v. Gior­gio Col­li und Mazz­i­no Mon­ti­na­ri. Bd. 2. Mün­chen 1980. S. 39. 
  6. [6] »Die Kul­tur­his­to­ri­ker schei­nen einig in der Annah­me, daß durch sol­che Ablen­kung sexu­el­ler Trieb­kräf­te von sexu­el­len Zie­len und Hin­len­kung auf neue Zie­le, ein Pro­zeß, der den Namen ›Sub­li­mie­rung‹ ver­dient, mäch­ti­ge Kom­po­nen­ten für alle kul­tu­rel­len Leis­tun­gen gewon­nen wer­den«, heißt es bei Freud, Sig­mund: Drei Abhand­lun­gen zur Sexu­al­theo­rie. Ein­lei­tung Hel­mut Rei­che. Frank­furt am Main 1998. S. 80 f. 
  7. [7] Im Sym­po­si­on wird Eros bestimmt als »Ver­lan­gen nach Zeu­gung im Schö­nen«, aber auch als »Ver­lan­gen des Sterb­li­chen nach Unsterb­lich­keit«. Vgl. Pla­ton: Wer­ke in acht Bän­den. Grie­chisch und Deutsch. Hrsg. v. Gun­ther Eig­ler. 3. Bd. Phai­don – Das Gast­mahl – Kra­ty­los. Deut­sche Über­set­zung von Fried­rich Schlei­er­ma­cher. Darm­stadt 1990. S. 329 und S. 333. 
  8. [8] vgl. Aris­to­te­les: Poe­tik. Grie­chisch / Deutsch. Über­setzt u. hrsg. v. Man­fred Fuhr­mann. Stutt­gart 1991. S. 33 und 4143. Hier geht es um die Erre­gung (und Abfuhr) von ele­os und phobos. 
  9. [9] vgl. mit Blick auf Leib­niz und Baum­gar­ten: Men­ke, Chris­toph: Kraft. Ein Grund­be­griff ästhe­ti­scher Anthro­po­lo­gie. Frank­furt am Main 2008. S. 27 und S. 45. 

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