Wenn das rhe­to­ri­sche Schluss­ver­fah­ren, das Enthy­mem, ein dege­ne­rier­ter Syl­lo­gis­mus ist, der sich nicht an das Wah­re, son­dern an das dem Wah­ren Ähn­li­che hält, wie Aris­to­te­les in sei­ner Rhe­to­rik sagt, stellt der Mythos also eine Son­der­form der Parad­eig­ma­ta dar, die das Enthy­mem stüt­zen. Die gemein­sa­me Logik von Rhe­to­rik und Poe­tik liegt daher in der Enar­ga­ia, die es Aris­to­te­les unter ande­rem erlaubt, die Meta­pher als einen klei­nen Mythos und den Mythos als eine gro­ße Meta­pher vor­zu­stel­len. Das wird deut­lich, wenn der Phi­lo­soph in der »Rhe­to­rik« erklärt, »daß der Esprit auf den ana­lo­gisch gebil­de­ten Meta­phern und dem Vor-Augen-Füh­ren basiert«[32], und hin­zu­fügt: »Ich ver­ste­he aber unter Vor-Augen-Füh­ren das, was Wirk­sam­keit zum Aus­druck bringt.«[33] Exakt das­sel­be hät­te er auch über den Mythos sagen kön­nen, inso­fern Wirk­sam­keit und Fol­ge­rich­tig­keit ein­an­der weit­ge­hend ent­spre­chen und ihre Ver­ge­gen­wär­ti­gung die eigent­li­che Leis­tung der künst­le­ri­schen Anord­nung ist. Tat­säch­lich heißt es in der Poe­tik: »Man muß die Hand­lun­gen zusam­men­fü­gen und sprach­lich aus­ar­bei­ten, indem man sie sich nach Mög­lich­keit vor Augen stellt.«[34] Zum einen geht es also um Anschau­lich­keit; zum ande­ren aber auch um den Auf­weis der Kon­tin­genz. Der Zuschau­er soll fol­ge­rich­tig nach­voll­zie­hen kön­nen, was geschieht; er soll aber auch auf die Wen­de­punk­te – ins­be­son­de­re auf den Umschlag von Glück in Unglück und von Unwis­sen­heit in Wis­sen – ach­ten, an denen die Geschich­te einen ande­ren Ver­lauf hät­te neh­men kön­nen. Aus die­sem Grund kann man mit Blick auf die Meta­pher wie mit Blick auf den Mythos von einer dis­play-Funk­ti­on spre­chen. Zu den­ken ist dabei nicht nur an das tech­ni­sche Dis­play, die Lein­wand oder den Bild­schirm, son­dern an das Verb »to dis­play«, das so viel wie »auf­zei­gen« und »durch­spie­len« meint. Vor die­sem Hin­ter­grund muss man denn auch die Dif­fe­ren­zie­rung sehen, die Aris­to­te­les an den Parad­eig­ma­ta vor­nimmt, die in der Dia­lek­tik nur eine gerin­ge, in der Rhe­to­rik eine grö­ße­re und in der Poe­tik der Epik und Dra­ma­tik eine beherr­schen­de Rol­le spie­len. In der Abhand­lung über die Rede­kunst erklärt der Phi­lo­soph näm­lich: »Es gibt aber zwei Arten von Bei­spie­len: Die eine Art des Bei­spiels ist die, frü­her gesche­he­ne Taten zu berich­ten, die ande­re aber die, etwas Ähn­li­ches zu erdich­ten. Von die­ser letz­ten Art ist die eine Unter­art das Gleich­nis, die ande­re die Fabel wie die von Äsop und die liby­sche.«[35]

Im Mythos des Dra­mas kann man die drit­te Unter­art sehen. Damit ist der Ver­ständ­nis­rah­men eta­bliert, in dem sich auch die orek­ti­sche Film­ana­ly­se bewegt. Der basa­le Auf­for­de­rungs­cha­rak­ter des Films, hin­zu­schau­en und hin­zu­hö­ren, weder die Augen noch die Ohren zu ver­schlie­ßen und sich sinn­lich wie see­lisch anrüh­ren zu las­sen, trifft auf die Respon­si­vi­tät der Zuschau­er, die im Kino durch Koaf­fek­tio­nen erheb­lich gestei­gert wer­den kann – Koaf­fek­tio­nen, die wie­der­um auf ele­men­ta­re Bedürf­nis­se zurück­kop­peln. Immersi­ons- und Inten­si­täts­er­fah­run­gen sind, so gese­hen, zwei Sei­ten ein und der­sel­ben Medail­le: Erst ein­mal in Bewe­gung ver­setzt, ist die E-Moti­on gera­de­zu unver­meid­lich, da sie sich unwei­ger­lich mit tie­fer­lie­gen­den Bedürf­nis­sen und wei­ter­füh­ren­den Wün­schen oder Ängs­ten, ange­neh­men oder unan­ge­neh­men Erin­ne­run­gen und ent­spre­chend gestimm­ten Vor­ah­nun­gen paart.

Ob die affek­ti­ve Kopp­lung von Medi­um und Rezi­pi­ent auf eine Kathar­sis hin­aus­läuft und wie die­se genau zu ver­ste­hen ist, will ich bewusst offen­las­sen. Klar ist jeden­falls, dass die­se Kopp­lung den kogni­ti­ven Effek­ten des Medi­ums eine jeweils spe­zi­fi­sche Fär­bung ver­leiht – und genau dar­auf kam es Aris­to­te­les in der Rhe­to­rik wie in der Poe­tik an. Das Enthy­mem ist nicht nur des­halb vom Syl­lo­gis­mus ver­schie­den, weil es dem Wah­ren ledig­lich ähn­lich sieht, son­dern weil es einer beson­de­ren Gestimmt­heit bedarf. Was der Wahr­heit ähn­lich sieht, spricht aber prin­zi­pi­ell – das ist sozu­sa­gen die Poin­te – die glei­chen Emo­tio­nen wie das Wah­re an und führt daher auch zu Emp­fin­dun­gen, die selbst dann authen­tisch, also gefühls­echt sind, wenn man weiß, wie sie sti­mu­liert wer­den. Wer im Kino lacht oder weint, lacht oder weint wirk­lich. Auch im Kino gilt somit die berühm­te Maxi­me von Horaz: »Mit den Lachen­den lacht, mit den Wei­nen­den weint das Ant­litz des Men­schen. Willst du, daß ich wei­ne, so trau­re erst ein­mal selbst; dann wird dein Unglück mich tref­fen.«[36]


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