Ein ande­res Expe­ri­ment zeigt, was pas­siert, wenn genau der ent­spre­chen­de Rah­men fehlt, der in den Augen von Rezi­pi­en­ten erst das Renom­mee erzeugt. In Zusam­men­ar­beit mit der Washing­ton Post begab sich der welt­be­kann­te Gei­gen­vir­tuo­se Joshua Bell als Stra­ßen­mu­si­ker ver­klei­det, in Jeans, lang­ärm­li­gen T-Shirt und mit Base­ball-Kap­pe, in die New Yor­ker U-Bahn und spiel­te dort Klas­si­ker von Bach bis Brahms, äußerst schwie­ri­ge Stü­cke, auch das bekann­te Ave Maria von Schu­bert, immer­hin fast eine drei­vier­tel Stun­de (ein Aus­schnitt davon ist in einem Video zu sehen).[12] Vor sich hat­te er einen geöff­ne­ten Gei­gen­kas­ten, in den er ein paar Dol­lar­mün­zen zur Ani­ma­ti­on gewor­fen hat­te. Dar­in fand sonst sei­ne Stra­di­va­ri-Gei­ge aus dem Jahr 1713 Platz, auf der er nun spiel­te.[13] Es kamen mehr als 1000 Besu­cher vor­bei, nur 7 blie­ben ste­hen, einer erkannt die außer­ge­wöhn­li­chen Fähig­kei­ten des Vio­li­nis­ten und sei­ne wert­vol­le Gei­ge und hör­te län­ger zu – ein Fan von Joshua Bell, der ihn aber in der Stra­ßen­klei­dung nicht erkann­te. In sei­nem Gei­gen­kas­ten fan­den sich 32,27 Dol­lar, 20 davon waren von allein von dem Fan.

Was die­ses Expe­ri­ment und das gegen­tei­lig ver­lau­fen­de Dr.-Fox-Experiment ver­bin­det: Die Wahr­neh­mung der Rezi­pi­en­ten wird im Wesent­li­chen durch den Rah­men beein­flusst, in dem ein Ereig­nis dar­ge­bo­ten wird. In der heu­ti­gen Zeit, in der viel­fach von einer Medi­en­ge­sell­schaft gespro­chen wird, wird der größ­te Teil der mensch­li­chen Wahr­neh­mung durch Medi­en bestimmt, so ist es auch das media­le Bild, das dar­über ent­schei­det, wie ein Red­ner und sei­ne Rede wahr­ge­nom­men wird.

Seit 1998 wird vom Insti­tut für all­ge­mei­ne Rhe­to­rik der Uni­ver­si­tät Tübin­gen die »Rede des Jah­res« aus­ge­wählt. In den letz­ten Jah­ren wur­den von 2018 bis 2022 als deren Ver­fas­ser Cem Özd­emir, Ursu­la von der Ley­en, Ange­la Mer­kel, Maren Kroy­mann und Lui­sa Neu­mann aus­er­wählt. Dabei erscheint es aller­dings frag­wür­dig, ob tat­säch­lich die aus­ge­wähl­ten Reden als Beleg für die Bezeich­nung der Rhe­to­rik als »ars bene dicen­di« (mit allen dem Begriff eige­nen Impli­ka­tio­nen) gel­ten kön­nen oder eher als Ver­nei­gung vor dem poli­ti­schen Main­stream zu sehen sind. Die Kri­te­ri­en, die die Grund­la­ge der Bewer­tung bil­den, sind zwar im Wesent­li­chen kor­rekt, aber recht weit inter­pre­tier­bar.[14] Als sol­che wer­den vom Rhe­to­rik-Insti­tut im Inter­net benannt: »1. bemer­kens­wer­ter Anlass oder beson­de­re situa­ti­ve Her­aus­for­de­rung? 2. publi­zis­ti­sche Wir­kung? 3. Ela­bo­riert­heit der Rede (mit Blick auf die gewähl­te Rede­gat­tung)? 4. inhalt­li­che Rele­vanz und the­ma­ti­sche Akzen­tu­ie­rung der Rede? 5. Vor­trags­stil (mit Blick auf die jewei­li­ge Per­sön­lich­keit)?«[15]

Gera­de bei der Aus­zeich­nung der Rede von Frau Mer­kel gilt es zu beden­ken, wel­che media­len Mög­lich­kei­ten bei einer auf­ge­zeich­ne­ten Rede bestehen, denn die­se Rede wur­de ohne Zwei­fel geschnit­ten, so dass sie die gewünsch­te Wir­kung erziel­te. Wie oft eine Neu­jahrs- oder Weih­nachts­an­spra­che ein­ge­spielt und geschnit­ten wird, bis die Mimik und die Ges­tik pas­sen, Ver­spre­cher her­aus­ge­schnit­ten wer­den, weiß nur der Pro­du­zent. Und der Rah­men einer Rede im Fern­se­hen, Rund­funk oder Inter­net ist auch bestimmt durch vor­he­ri­ge Sen­dun­gen, durch Chats, durch Kom­men­ta­re, die ein­ge­blen­det oder ein­ge­spro­chen wur­den, kurz: der Rah­men, in dem Per­so­nen, ihr Auf­tre­ten und ihre Reden in den Medi­en ein­ge­bet­tet sind, wirkt und der Rah­men wird nicht sel­ten von Inter­es­sen­grup­pen gestal­tet, von denen der Rezi­pi­ent gar nichts mitbekommt.