Die genann­ten Kri­te­ri­en kön­nen recht weit aus­ge­legt wer­den. Das zeigt sich auch in den Begrün­dun­gen, die nicht ganz ohne Gemein­plät­ze aus­kom­men, so bei­spiels­wei­se zur Aus­zeich­nung der Rede von Frau Neu­bau­er: »Eine kom­pli­zier­te Rede in kom­pli­zier­ten Zei­ten«, (…) »(m)it gro­ßem Enga­ge­ment und kraft­vol­ler Rhe­to­rik tritt Neu­bau­er für ihre Sache ein, ihre Betrof­fen­heit und Sor­ge sind in jedem Satz der Rede zu spü­ren.«. Man spürt, aber ana­ly­siert wenig. Wohl um die »Ela­bo­riert­heit der Rede« zu beto­nen, wird eine rhe­to­ri­sche Fra­ge, ver­bun­den mit einer Excla­ma­tio zitiert: »Genau hier legt Neu­bau­er, die uner­müd­li­che Kli­ma­ak­ti­vis­tin, den Fin­ger in die Wun­de und fragt mit gro­ßer Ver­ve: ›Seit wann argu­men­tie­ren die Grü­nen mit gefak­ten Zah­len von RWE? Seit wann?‹«[16] Frau Neu­bau­er erhielt 2023 auch den »öko­no­mi­schen Pre­digt­preis« für ihr »Lebens­werk« (im Alter von 27 Jah­ren!). Die Jury erklär­te, »die 27-Jäh­ri­ge habe inner­halb weni­ger Jah­re im deut­schen Sprach­raum das Bewusst­sein von der gesell­schaft­li­chen Auf­ga­be der Bewah­rung der Schöp­fung maß­geb­lich mit­ge­prägt«, und wei­ter »ihr Reden und Den­ken ent­hal­te bei genaue­rem Hin­se­hen Leit­mo­ti­ve zu reli­giö­sen Kon­tex­ten wie exis­ten­zi­el­len Fra­ge­stel­lun­gen. Dar­in lie­ge ein wich­ti­ger Bei­trag für die Pre­digt­kul­tur der Gegen­wart in der glo­ba­len Kli­ma­kri­se.«[17] Die Preis­ver­ga­be wird durch die theo­lo­gi­schen Insti­tu­tio­nen der Uni­ver­si­tät Bonn ver­ant­wor­tet. Nun wird Frau Neu­bau­er für eine Rede nach Rom vom Nach­fol­ger Petri zu einem Kli­ma­kon­gress eingeladen.

Es erscheint gera­de bei der Aus­wahl der Per­sön­lich­kei­ten, dass vor allem der poli­tisch-media­le Rah­men eine wesent­li­che Rol­le spiel­te, wohl mehr als die sprach­li­che Ela­bo­riert­heit. Zu den ehe­ma­li­gen Preis­trä­gern des Pre­digt­prei­ses gehö­ren auch Nor­bert Lam­mert und Wal­ter Jens, bei­des Red­ner mit dif­fe­ren­zier­ter und geschlif­fe­ner Spra­che, in deren Reden, Tex­ten und Aus­füh­run­gen tat­säch­lich ihre Per­sön­lich­keit und die Macht ihrer Spra­che ersicht­lich wird. Die »arti­fi­ci­o­sa elo­quen­tia« (Cice­ro) eines Lam­mert oder Jens, die sprach­li­che Geschlif­fen­heit und Dif­fe­ren­zie­rung, scheint heu­te weni­ger aus­schlag­ge­bend für die Bewer­tung rhe­to­ri­scher Fähig­kei­ten zu sein, so dass selbst sprach­lich weni­ger ela­bo­rier­te poli­ti­sche Red­ner Rhe­to­rik-Aus­zeich­nun­gen erhal­ten kön­nen. Die guten Zei­ten der poli­ti­schen Bered­sam­keit eines sprach­li­chen Ästhe­ten wie Car­lo Schmid oder von elo­quen­ten Red­nern wie Hel­mut Schmidt, Oskar Lafon­taine und, zumin­dest in jun­gen Jah­ren, Fried­rich Merz, ja auch von Gre­gor Gysi schei­nen vor­bei zu sein.

Erin­nern wir uns, was Cice­ro vom guten Red­ner for­der­te: phi­lo­so­phi­sches Den­ken, Scharf­sinn und sprach­li­che Geschlif­fen­heit. Sicher­lich ein Ide­al, das kaum zu errei­chen ist. Doch soll­te in den Tex­ten und Reden zumin­dest etwas davon zu spü­ren sein. Tat­säch­li­che Umstän­de, Äuße­run­gen, Tex­te und Reden soll­ten, mög­lichst los­ge­löst von medi­al gene­rier­ten Vor­ur­tei­len, dif­fe­ren­ziert betrach­tet wer­den und zur Refle­xi­on und zum Dis­kurs füh­ren. Aller­dings tritt heu­te zumeist die über­zeu­gen­de Spra­che als Wir­kungs­mo­ment der Rede in den Hin­ter­grund, außer­sprach­li­che und außer der Sache lie­gen­de Aspek­te, das Framing und die Beherr­schung der Medi­en tre­ten her­vor. Haber­mas’ herr­schafts­frei­er Dis­kurs bleibt so, was er immer war: eine Illu­si­on. Und nicht gro­ße Red­ner oder Red­ne­rin­nen wer­den aner­kannt und aus­ge­zeich­net, son­dern – ganz »woke« gegen­dert – »Reden­de«.