Essay

Der ideale Redner

Differenziertes Betrachten, Reflexion und Diskurs

Von Bernd Steinbrink


Wie stellt sich das Bild eines idea­len Red­ners in heu­ti­ger Zeit dar? Gibt es einen solch idea­len Red­ner heu­te noch? Das ist ange­sichts einer sich ver­än­dern­den Rol­le in einer Medi­en­ge­sell­schaft eher frag­lich. Bedenkt man, dass ihn frü­he­ren Zei­ten das per­sön­li­che Auf­tre­ten, der Ruf, das Erschei­nungs­bild und die Elo­quenz wesent­li­che Wir­kungs­ele­men­te des Red­ners waren, die für das Publi­kum oft unmit­tel­bar wahr­nehm­bar waren, so sind es in der heu­ti­gen Zeit durch diver­se Medi­en gepräg­ten Zeit sehr viel­fäl­ti­ge Fak­to­ren, die auf das wahr­ge­nom­me­ne Bild einer Per­son und ihre Rede wir­ken kön­nen. In Zei­ten, in denen die Rhe­to­rik ent­stand und ihre Blü­te erleb­te, war es in Grie­chen­land der zen­tra­le Kult­platz einer Gemein­de, die Ago­ra, auf der Reden gehal­ten wur­den, in Rom waren das Forum und der Senat die Wir­kungs­stät­te des Red­ners. Die Rede muss­te unmit­tel­bar auf die Anwe­sen­den wir­ken. Die Per­son des Red­ners, sein Ver­hal­ten wur­den von den Rezi­pi­en­ten in der jewei­li­gen Situa­ti­on direkt erlebt, er war bei den Zuhö­rern bekannt.

Schon Aris­to­te­les schrieb in sei­ner »Rhe­to­rik«: »Von den Über­zeu­gungs­mit­teln, die durch die Rede zustan­de gebracht wer­den, gibt es drei For­men: Die ers­ten näm­lich lie­gen im Cha­rak­ter des Red­ners, die zwei­ten dar­in, den Zuhö­rer in einen bestimm­ten Zustand zu ver­set­zen, die drit­ten in dem Argu­ment selbst, durch das Bewei­sen oder das schein­ba­re Bewei­sen. Durch den Cha­rak­ter also (erfolgt die Über­zeu­gung), wenn die Rede so gehal­ten wird, dass sie den Red­ner glaub­wür­dig macht; denn wir glau­ben den Tugend­haf­ten in höhe­rem Maße und schnel­ler – und zwar im All­ge­mei­nen bei jeder Sache, voll­ends aber bei sol­chen Fäl­len, in denen es nichts Genau­es, son­dern gegen­tei­li­ge Mei­nun­gen gibt.«[1] Aris­to­te­les sieht den Cha­rak­ter und die Per­sön­lich­keit des Red­ners also als sehr zen­tral für die Wir­kung der Rede an, aber er muss die Rede in einer Wei­se hal­ten, dass sein Cha­rak­ter in ihr zum Aus­druck kommt, denn nur so wirkt sie authen­tisch und macht sie glaub­wür­dig. »(V)ielmehr ver­fügt der Cha­rak­ter bei­na­he sozu­sa­gen über den wich­tigs­ten Aspekt der Über­zeu­gung.«[2] Aller­dings müs­sen die drei von Aris­to­te­les genann­ten Wir­kungs­ele­men­te eine schlüs­si­ge Ver­bin­dung ein­ge­hen. Dabei muss der Red­ner den güns­ti­gen Moment ergrei­fen, den Kai­ros erken­nen, um die Zuhö­rer für sei­ne Sache zu gewinnen.

Die Maß­stä­be, die in der Anti­ke an die Per­son des idea­len Red­ners gelegt wur­den, sind sehr hoch und nicht ohne Grund beti­tel­te Cice­ro sei­ne wich­tigs­ten Bücher, »Vom Red­ner« und »Der Red­ner«. Er for­dert: »Bei dem Red­ner hin­ge­gen muss man den Scharf­sinn der Dia­lek­ti­ker, die Gedan­ken der Phi­lo­so­phen, die Wor­te fast der Dich­ter, das Gedächt­nis der Rechts­ge­lehr­ten, die Stim­me der Tra­gö­di­en­spie­ler, das Gebär­den­spiel bei­na­he der größ­ten Schau­spie­ler for­dern. Aus die­sem Grund lässt sich unter den Men­schen nichts sel­te­ner fin­den als ein voll­ende­ter Red­ner. Denn wäh­rend in ande­ren Küns­ten schon ein­zel­ne Geschick­lich­kei­ten, die ein Künst­ler sich in einem ein­zel­nen Fach nur in mäßi­gem Grad ange­eig­net hat, Bei­fall fin­den, so kön­nen sie bei dem Red­ner nur dann Anspruch auf Bei­fall machen, wenn sie sich alle in höchs­ter Voll­kom­men­heit in ihm ver­ei­nigt fin­den.«[3]