Essay
Der ideale Redner
Differenziertes Betrachten, Reflexion und Diskurs
Wie stellt sich das Bild eines idealen Redners in heutiger Zeit dar? Gibt es einen solch idealen Redner heute noch? Das ist angesichts einer sich verändernden Rolle in einer Mediengesellschaft eher fraglich. Bedenkt man, dass ihn früheren Zeiten das persönliche Auftreten, der Ruf, das Erscheinungsbild und die Eloquenz wesentliche Wirkungselemente des Redners waren, die für das Publikum oft unmittelbar wahrnehmbar waren, so sind es in der heutigen Zeit durch diverse Medien geprägten Zeit sehr vielfältige Faktoren, die auf das wahrgenommene Bild einer Person und ihre Rede wirken können. In Zeiten, in denen die Rhetorik entstand und ihre Blüte erlebte, war es in Griechenland der zentrale Kultplatz einer Gemeinde, die Agora, auf der Reden gehalten wurden, in Rom waren das Forum und der Senat die Wirkungsstätte des Redners. Die Rede musste unmittelbar auf die Anwesenden wirken. Die Person des Redners, sein Verhalten wurden von den Rezipienten in der jeweiligen Situation direkt erlebt, er war bei den Zuhörern bekannt.
Schon Aristoteles schrieb in seiner »Rhetorik«: »Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Formen: Die ersten nämlich liegen im Charakter des Redners, die zweiten darin, den Zuhörer in einen bestimmten Zustand zu versetzen, die dritten in dem Argument selbst, durch das Beweisen oder das scheinbare Beweisen. Durch den Charakter also (erfolgt die Überzeugung), wenn die Rede so gehalten wird, dass sie den Redner glaubwürdig macht; denn wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller – und zwar im Allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern gegenteilige Meinungen gibt.«[1] Aristoteles sieht den Charakter und die Persönlichkeit des Redners also als sehr zentral für die Wirkung der Rede an, aber er muss die Rede in einer Weise halten, dass sein Charakter in ihr zum Ausdruck kommt, denn nur so wirkt sie authentisch und macht sie glaubwürdig. »(V)ielmehr verfügt der Charakter beinahe sozusagen über den wichtigsten Aspekt der Überzeugung.«[2] Allerdings müssen die drei von Aristoteles genannten Wirkungselemente eine schlüssige Verbindung eingehen. Dabei muss der Redner den günstigen Moment ergreifen, den Kairos erkennen, um die Zuhörer für seine Sache zu gewinnen.
Die Maßstäbe, die in der Antike an die Person des idealen Redners gelegt wurden, sind sehr hoch und nicht ohne Grund betitelte Cicero seine wichtigsten Bücher, »Vom Redner« und »Der Redner«. Er fordert: »Bei dem Redner hingegen muss man den Scharfsinn der Dialektiker, die Gedanken der Philosophen, die Worte fast der Dichter, das Gedächtnis der Rechtsgelehrten, die Stimme der Tragödienspieler, das Gebärdenspiel beinahe der größten Schauspieler fordern. Aus diesem Grund lässt sich unter den Menschen nichts seltener finden als ein vollendeter Redner. Denn während in anderen Künsten schon einzelne Geschicklichkeiten, die ein Künstler sich in einem einzelnen Fach nur in mäßigem Grad angeeignet hat, Beifall finden, so können sie bei dem Redner nur dann Anspruch auf Beifall machen, wenn sie sich alle in höchster Vollkommenheit in ihm vereinigt finden.«[3]