Essay

Die Rhetorik der Technik als Motor der Utopie

Über Kurd Laßwitz' Science-fiction »Auf zwei Planeten«

Von Volker Friedrich


1 Uto­pien und die Rhe­to­rik der Technik

Uto­pien zeich­nen »neue« und »Un«-Orte[1] häu­fig so, dass sie mit tech­ni­schen Ver­spre­chen ver­knüpft wer­den, sei es, dass Tech­nik als Vehi­kel den Weg zu den »Un«-Orten, den Noch-nicht-Orten ermög­licht, oder sei es, dass Tech­nik die Uto­pie zu sich selbst bringt. Das aber legt nahe, dass in Uto­pien tech­ni­sche Beschrei­bun­gen nicht einen Selbst­zweck haben und nicht allein als äuße­re Attri­bu­te oder gat­tungs­ge­mä­ßes Orna­ment einer ande­ren Welt die­nen, son­dern eine kon­sti­tu­ti­ve Funk­ti­on für die Uto­pie und das Erzäh­len der Uto­pie besit­zen – dass also die tech­ni­schen Beschrei­bun­gen in uto­pi­schen Tex­ten in umfas­sen­der Wei­se rhe­to­risch sind oder sein kön­nen. Im Sci­ence-fic­tion, im wis­sen­schaft­li­chen Mär­chen und der phan­tas­ti­schen Erzäh­lung treibt oft Tech­nik selbst die Erzäh­lung vor­an, erlaubt gar erst, bestimm­te dra­ma­tur­gi­sche Wen­dun­gen ein­zu­lei­ten und vor­zu­neh­men; somit bekommt Tech­nik eine dra­ma­tur­gi­sche, rhe­to­ri­sche Funk­ti­on. Tech­nik ist dem­nach nicht »nur« Orna­ment des Noch-nicht-Ortes, der Uto­pie, son­dern Trieb­kraft der Erzäh­lung (und wohl auch des Erzäh­lens). Sie bekommt – zumin­dest in den anspruchs­vol­len Bei­spie­len die­ser Gen­re – eine wei­te­re Funk­ti­on, näm­lich eine argu­men­ta­ti­ve: Tech­nik selbst wird zum Argu­ment für die Mög­lich­keit des Un-Ortes, zur Bedin­gung der Mög­lich­keit eines uto­pi­schen Stre­bens, der Suche nach einer ande­ren, bes­se­ren Welt. Wenn die Dar­stel­lung der Tech­nik in die­sen Gat­tun­gen illus­tra­ti­ven, dra­ma­tur­gi­schen und argu­men­ta­ti­ven Zwe­cken dient oder die­nen kann, dann las­sen sich anhand die­ser Fik­tio­nen auch Fra­gen einer Rhe­to­rik der Tech­nik[2] ent­wi­ckeln und dis­ku­tie­ren, ins­be­son­de­re Aspek­te einer Meta­phoro­lo­gie[3] und einer Nar­ra­to­lo­gie[4] der Technik.

Die­se The­sen sol­len im Fol­gen­den belegt oder zumin­dest illus­triert wer­den am Bei­spiel des Romans »Auf zwei Pla­ne­ten«, den Kurd Laß­witz 1897 ver­öf­fent­lich­te.[5]

2 Kurd Laß­witz und sein Roman

Kurd Laß­witz[6] wur­de 1848 in Bres­lau gebo­ren, sein Vater war Kauf­mann und demo­kra­ti­scher Abge­ord­ne­ter im preu­ßi­schen Land­tag. Kurd Laß­witz stu­dier­te Mathe­ma­tik und Phy­sik und pro­mo­vier­te zum Dok­tor der Phi­lo­so­phie. Er hat­te einen Beruf, als Gym­na­si­al­pro­fes­sor lehr­te er in Gotha am Gym­na­si­um »Ernes­ti­num« Phy­sik, Mathe­ma­tik und phi­lo­so­phi­sche Pro­pä­deu­tik; und er hat­te zwei Beru­fun­gen, als Schrift­stel­ler ver­öf­fent­lich­te er wis­sen­schaft­li­che Mär­chen und Erzäh­lun­gen, Sci­ence-fic­tion, Humo­res­ken; als Natur­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph arbei­te­te er ins­be­son­de­re über Imma­nu­el Kant und Gus­tav Theo­dor Fech­ner. Sein zwei­bän­di­ges wis­sen­schaft­li­ches Haupt­werk »Geschich­te der Ato­mis­tik vom Mit­tel­al­ter bis New­ton« fand in Fach­krei­sen Aner­ken­nung, eben­so sei­ne zahl­rei­chen Auf­sät­ze zu phi­lo­so­phi­schen und natur­wis­sen­schaft­li­chen The­men; doch der Ruf auf eine Pro­fes­sur blieb ihm ver­wehrt, obgleich ihn immer­hin Wil­helm Dil­they dafür emp­foh­len hat­te[7]. Sei­ne erzäh­le­ri­schen Tex­te wur­den in ver­schie­de­nen Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten sowie in Büchern gedruckt; sein Erfolgs­ro­man »Auf zwei Pla­ne­ten« wur­de mehr­fach auf­ge­legt, bevor ihn die Nazis ver­bo­ten und er in Ver­ges­sen­heit geriet. Laß­witz starb 1910 in Gotha.

Ein »Haschisch-Buch«[8] nann­te Ber­tha von Sutt­ner, die spä­te­re Frie­dens­no­bel­preis­trä­ge­rin (1905), ein Jahr nach des­sen Erschei­nen Laß­witz’ Roman; die­ses »wis­sen­schaft­li­che Mär­chen«[9] wecke »Emp­fin­dun­gen und Vor­stel­lun­gen, die berau­schend sind und die man nie zuvor gekos­tet hat«[10] – ganz ohne Dro­gen … Der welt­an­schau­li­che Gehalt des Romans brach­te die einen zum Schwär­men, Laß­witz’ Lust am Extra­po­lie­ren wis­sen­schaft­li­cher und tech­ni­scher Ideen die ande­ren. So befand der Rake­ten­in­ge­nieur und Raum­fahrt­pio­nier Wern­her von Braun, die »tech­ni­sche Phan­ta­sie des Ver­fas­sers, dem Funk­ver­kehr, Auto und Flug­zeug noch völ­lig fremd sind, ist über­ra­schend und gera­de­zu visio­när«[11], die Raum­sta­ti­on über dem Nord­pol sei, so Rudi Schwei­kert, für Wern­her von Braun »mit Aus­lö­ser für sein Pro­jekt eines ›Welt­raum­bahn­hofs‹. Von Brauns Raum­sta­ti­on gleicht von der äuße­ren Gestalt (wenn auch nicht von den Aus­ma­ßen her) der­je­ni­gen von Laß­witz fast bis aufs Haar. Ein Phä­no­men, rar genug: Lite­ra­tur beein­flußt Wis­sen­schaft.«[12]

Kurd Laß­witz wird zurecht zu »den hell­sich­tigs­ten Weg­be­rei­tern«[13] der Sci­ence-fic­tion gezählt. Es ging ihm nicht allein dar­um, »natur­wis­sen­schaft­lich informierte(n) Leute(n) Geschich­ten (zu) erzäh­len«[14], das ist sicher nur ein Teil sei­nes und sei­ner Leser Ver­gnü­gen. Aben­teu­er­ro­man eben­so wie phi­lo­so­phi­scher Roman, Lie­bes- wie Eman­zi­pa­ti­ons­ge­schich­te, Sci­ence-fic­tion, wis­sen­schaft­li­ches Mär­chen oder Phan­tas­tik eben­so wie poli­ti­sche, pazi­fis­ti­sche und phi­lo­so­phi­sche Uto­pie – all das kann in Laß­witz’ »Auf zwei Pla­ne­ten« gefun­den wer­den.[15] Um so erstaun­li­cher, wo über­all man nichts über die­sen Roman fin­det, kaum eine Lite­ra­tur­ge­schich­te kennt ihn, auch »Kind­lers Lite­ra­tur­le­xi­kon« lässt ihn links lie­gen. Er ist anschei­nend etwas für den Blick aufs Ent­le­ge­ne; den warf Arno Schmidt gern in die lite­ra­ri­sche Welt. Folgt man Rudi Schwei­kert, einem Ken­ner der Wer­ke Arno Schmidts, so war Schmidt von »Auf zwei Pla­ne­ten« tief beein­druckt und beein­flußt und bewun­der­te die­sen Roman.[16] Als Beleg für Schmidts Laß­witz-Begeis­te­rung führt Schwei­kert unter ande­rem an, dass in »Zettel’s Traum« gleich das ers­te län­ge­re Zitat aus Laß­witz’ Roman stammt.[17]

  1. [1] »Das Wort ist eine Bil­dung zu grie­chisch ou ›nicht‹ und grie­chisch tópos ›Ort, Stel­le, Land‹ und bedeu­tet dem­nach eigent­lich ›Nicht­land, Nir­gend­wo‹.« Aus: Duden – 12 Bde., Bd. 7: Her­kunfts­wör­ter­buch. Ety­mo­lo­gie der deut­schen Spra­che. Die Geschich­te der deut­schen Wör­ter bis zur Gegen­wart. Mann­heim 2001(3). S. 885. Der Begriff »Uto­pia« taucht erst­mals 1516 mit Tho­mas Morus’ gleich­na­mi­gen Werk auf. Zur Begriffs­ge­schich­te vgl. Dier­se, Ulrich: Uto­pie. In: Rit­ter, Joa­chim; Grün­der, Karl­fried; Gabri­el, Gott­fried (Hg.): His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Philosophie.Bd.11, U—V. Basel 2001. Sp. 510—526; sowie Otto, Dirk: Uto­pie. In: Ueding, Gert (Hg.): His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Rhe­to­rik, Bd. 9: St—Z. Tübin­gen 2009. Sp.982—997.
  2. [2] vgl. zu die­sem Begriff und zu den For­schungs­ge­gen­stän­den einer Rhe­to­rik der Tech­nik: Fried­rich, Vol­ker: Zur Rhe­to­rik der Tech­nik. Auf­riss eines For­schungs­ge­bie­tes. In: ders. (Hg.): Tech­nik den­ken. Phi­lo­so­phi­sche Annä­he­run­gen. Stutt­gart 2018. S. 249—259; auch abruf­bar unter: ders. (Hg.): Spra­che für die Form – Forum für Design und Rhe­to­rik. Aus­ga­be Nr. 11, Herbst 2017. https://www.designrhetorik.de/zur-rhetorik-der-technik/ (Per­ma­link).
  3. [3] a. a. O., 2018, S. 256. 
  4. [4] a. a. O., S. 257 f. 
  5. [5] Der Roman wur­de immer wie­der auf­ge­legt, häu­fig mit Kür­zun­gen und Bear­bei­tun­gen ver­se­hen. Unge­kürzt wur­de er zuletzt im Rah­men der »Kol­lek­ti­on Laß­witz. Neu­aus­ga­ben der Schrif­ten von Kurd Laß­witz in der Fas­sung der Tex­te letz­ter Hand« im Ver­lag Die­ter von Ree­ken her­aus­ge­ge­ben: Laß­witz, Kurd: Auf zwei Pla­ne­ten. Lüne­burg 2020(2). 607 Seiten. 
  6. [6] Die­se bio­gra­fi­schen Anga­ben stüt­zen sich auf: Ree­ken, Die­ter von: Kurd Laß­witz – Lebens­da­ten. In: ders. (Hg.): Über Kurd Laß­witz. Tage­buch 1876–1883, Bil­der, Auf­sät­ze. Lüne­burg 2018(2) sowie auf: Laß­witz, Kurd: Lebens­lauf. a. a. O., S. 15—17.
  7. [7] s. Laß­witz, Kurd: Tage­buch. a. a. O., S. 41. 
  8. [8] Sutt­ner, Ber­tha von: Die Numen­heit. a. a. O., S. 123. 
  9. [9] ebd. 
  10. [10] ebd. 
  11. [11] Zitiert nach: Rot­ten­stei­ner, Franz: Ord­nungs­lie­bend im Welt­raum – Kurd Laß­witz. In: Ree­ken, Die­ter von (Hg.) Über Kurd Laß­witz. a. a. O., S. 134. 
  12. [12] Schwei­kert, Rudi: Von Mar­ti­ern und Men­schen oder Die Welt, durch Ver­nunft divi­diert, geht nicht auf. Hin­wei­se zum Ver­ständ­nis von »Auf zwei Pla­ne­ten«. In: Laß­witz, Kurd: Auf zwei Pla­ne­ten. Frank­furt am Main 1984(2). S. 950 f. 
  13. [13] Dath, Diet­mar: Nie­ge­schich­te. Sci­ence Fic­tion als Kunst- und Denk­ma­schi­ne. Ber­lin 2019. S. 175. 
  14. [14] a. a. O., S. 687. 
  15. [15] Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Defi­ni­tio­nen die­ser Gat­tun­gen und ihre Abgren­zun­gen von­ein­an­der (vgl. Frenschkow­ski, Mar­co: Phan­tas­tik. In: Ueding, Gert (Hg.): His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Rhe­to­rik, Bd. 10: Nach­trä­ge. Tübin­gen 2012. Sp. 886—900.) spie­len für mei­ne Über­le­gun­gen in die­sem Arti­kel kei­ne Rolle. 
  16. [16] s. Schwei­kert, a. a. O., S. 959—964.
  17. [17] Das Zitat greift eine Sze­ne auf, in der Isma, die Frau des Nord­pol-Expe­di­ti­ons­lei­ters Torm, auf dem Mars eine unge­wöhn­li­che Aus­stel­lung über »Tast­kunst« besucht (s. Schmidt, Arno: Zettel’s Traum. i. Buch. Ber­lin 2010. S. 14.). 

Doppelausgabe Nr. 16 und 17, Herbst 2020

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