4 Tech­nik und Rhe­to­rik in »Auf zwei Planeten«

Vie­le der tech­ni­schen Beschrei­bun­gen, die Laß­witz aus­führt, haben nicht allein illus­tra­ti­ven Cha­rak­ter, son­dern eben eine dra­ma­tur­gi­sche Funk­ti­on, Tech­nik ist gleich­sam Akteur im Hand­lungs­ge­sche­hen. Dies, aber auch die tech­ni­sche Phan­ta­sie, die durch­aus visio­nä­re Züge trägt, sol­len die fol­gen­den Stel­len veranschaulichen.

Die Torm­sche Expe­di­ti­on ist wis­sen­schaft­lich und tech­nisch auf der Höhe ihrer Zeit, dem Ende des 19. Jahr­hun­derts, aus­ge­stat­tet. Die Land­schaf­ten um den Nord­pol wer­den von Salt­ner wäh­rend des Bal­lon­flu­ges foto­gra­fisch doku­men­tiert: »Wäh­rend Grun­the die Land­mar­ken auf­nahm und Torm die Instru­men­te ablas, such­te Salt­ner, dem die pho­to­gra­phi­sche Fest­hal­tung des Ter­rains oblag, die Gegend mit sei­nem vor­züg­li­chen Abbé’schen Reli­ef­fern­rohr ab. Das­sel­be gab eine sech­zehn­fa­che Ver­grö­ße­rung und ließ, da es die Augen­di­stanz ver­zehn­fach­te, die Gegen­stän­de in ste­reo­sko­pi­scher Kör­per­lich­keit erschei­nen.«[30] Genau die­ses leis­tungs­star­ke Sche­ren­fern­rohr erlaubt ihm zu ent­de­cken, was der Geschich­te der Expe­di­ti­on eine ent­schei­den­de Wen­dung gibt: Es muss schon vor ihnen jemand den Nord­pol erreicht haben.

Bevor sie der Sache auf den Grund gehen kön­nen, gerät der Bal­lon der For­scher in Tur­bu­len­zen und wird von einer unbe­kann­ten Kraft in die Höhe geris­sen. Schnell ist klar, dass dafür nicht meteo­ro­lo­gi­sche Ver­hält­nis­se die Ursa­che sind, was hin­ge­gen es ist, wird sich den For­schern erst eini­ge Zeit spä­ter erschlie­ßen: Wäh­rend sie mit ihrem Bal­lon an den Nord­pol gelang­ten, beweg­te sich auf sei­ner ver­län­ger­ten Ach­se ein Raum­schiff der Mar­tier zu der Raum­sta­ti­on im All, eine Zwi­schen­sta­ti­on, »einen Erd­halb­mes­ser über dem Pol«[31], die einen beque­men Fähr­ver­kehr zwi­schen den Pla­ne­ten erlaubt und den Trans­port von Mars­be­woh­nern und Mate­ri­al ver­ein­facht. Heu­te reist man zur »Inter­na­tio­na­le Raum­sta­ti­on (ISS – Inter­na­tio­nal Space Sta­ti­on)«, die aller­dings in »nur« 400 Kilo­me­tern Höhe die Erde umkreist … Die aus einem durch­sich­ti­gen Werk­stoff gefer­tig­te Raum­sta­ti­on der »Nume« ist ring­för­mig auf­ge­baut, ein kom­ple­xes Kon­strukt aus Schwung­rä­dern, und hat einen Durch­mes­ser von 120 Metern. »Wie aber war es mög­lich, daß die­ser Ring in der Höhe von 6.356 Kilo­me­tern sich frei­schwe­bend über der Erde erhielt? Eine tief­rei­chen­de Erkennt­nis der Natur und eine äußerst scharf­sin­ni­ge Aus­bil­dung der Tech­nik hat­ten es ver­stan­den, die­ses Wun­der­werk her­zu­stel­len.«[32]

Wie konn­ten Laß­witz’ Mar­tier die­se Sta­ti­on so hoch über der von ihnen besie­del­ten Insel am Nord­pol plat­zie­ren, so dass ihre Raum­glei­ter zwi­schen dem Nord­pol und der Raum­sta­ti­on pen­deln konn­ten, ohne dass der Raum­sta­ti­ons­ring durch Erd­an­zie­hung her­ab­stürz­te? Laß­witz beschreibt die tech­ni­schen Erfin­dun­gen der Mar­tier immer wie­der detail­liert, um aus der nüch­tern anmu­ten­den Beschrei­bung begeis­ter­te Ablei­tun­gen zu tref­fen: »Der Ring unter­lag natür­lich der Anzie­hungs­kraft der Erde und wäre, sich selbst über­las­sen, auf die Insel am Pol gestürzt. Gera­de von die­ser Insel aus aber wirk­te auf ihn eine absto­ßen­de Kraft, wel­che ihn in der Ent­fer­nung im Gleich­ge­wicht hielt, die genau dem Halb­mes­ser der Erde gleich­kam. Die­se Kraft hat­te ihre Quel­le in nichts ande­rem als in der Son­ne selbst, und die Kraft der Son­nen­strah­lung so umzu­for­men, daß sie jenen Ring der Erde gegen­über in Gleich­ge­wichts­la­ge hielt, das eben hat­te die Kunst einer glän­zend vor­ge­schrit­te­nen Wis­sen­schaft und Tech­nik zustan­de gebracht.«[33] Wis­sen­schaft und Tech­nik machen die hohe Über­le­gen­heit der Mar­tier aus, sie beherr­schen sie als Kunst. Der Kern die­ser Kunst liegt in der Ener­gie, die die Mar­tier nut­zen: Son­nen­en­er­gie und die Umwand­lung von Gra­vi­ta­ti­on. Die­ses Motiv ist lei­tend für den Roman, die Basis der tech­ni­schen und somit kul­tu­rel­len Über­le­gen­heit liegt in der per­fek­ten Nut­zung die­ser Ener­gie­quel­len: Son­nen­en­er­gie und Umwand­lung der Schwer­kraft. Die Tech­nik hat die Mar­tier befreit und ihnen erlaubt, ihre hohe Kul­tur zu ent­wi­ckeln, Kul­tur- und Tech­nik­ent­wick­lung gehen bei ihnen Hand in Hand.

Den Aus­gang nimmt das mit dem ent­schei­den­den Roh­stoff: Ener­gie. Die Mar­tier wol­len auf der Erde in den gro­ßen Wüs­ten Son­nen­kraft­wer­ke bau­en – eine Idee, die rund 100 Jah­re spä­ter in Angriff genom­men wur­de … Die Ener­gie­fra­ge trieb und treibt die Men­schen nach Laß­witz’ Tod wohl noch mehr an als zu sei­nen Leb­zei­ten: Die Mäch­te ran­gen in bei­den Welt­krie­gen auch um die Vor­herr­schaft über Koh­le­ab­bau­ge­bie­te, spä­ter wur­de um Öl gerun­gen, aber immer wie­der sind es fos­si­le Brenn­stof­fe, die die Men­schen in krie­ge­ri­sche und wirt­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen treiben.

Für die hoch­ent­wi­ckel­te Tech­nik der Mar­tier führt Laß­witz vie­le klei­ne und vie­le gro­ße Bei­spie­le vor Augen, und wie so oft in die­sem Gen­re wird künf­ti­ge Tech­nik vor­weg­ge­nom­men – ob man »Auf zwei Pla­ne­ten« nun der Sci­ence-fic­tion, der Phan­tas­tik, der wis­sen­schaft­li­chen Mär­chen zuord­nen mag, ist dafür nicht von Belang. Von der Raum­sta­ti­on las­sen sich sowohl zum Mars wie zur Erde Depe­schen sen­den, und zwar mit­tels Licht­strah­len: »Sie tele­gra­phier­ten nicht nur, sie tele­fo­nier­ten ver­mö­ge des Licht­strahls. Die elek­tro­ma­gne­ti­schen Schwin­gun­gen des Tele­phons setz­ten sich in pho­to­che­mi­sche um und wur­den auf der andern Sta­ti­on sofort am Appa­rat abge­le­sen.«[34] Und nach­dem die Mar­tier im zwei­ten Buch des Romans eine Rei­he von Staa­ten auf der Erde beherr­schen, eta­blie­ren sie dort Tech­ni­ken, die gut 120 Jah­re nach Erschei­nen des Romans für vie­le den »sta­te of the art« dar­stel­len: »Die Mar­tier besa­ßen ein Ver­fah­ren zur Her­stel­lung von Akku­mu­la­to­ren, die nur ein sehr gerin­ges Gewicht hat­ten. Die­se waren sehr bald auf der Erde ein­ge­führt wor­den und hat­ten das Fuhr­we­sen umge­stal­tet. In Ber­lin waren die Pfer­de voll­stän­dig aus dem Ver­kehr geschwun­den. […] In der Haupt­stadt waren jetzt nur noch elek­tri­sche Wagen und Drosch­ken im Gebrauch.«[35] Und war­um soll­te man beim Öff­nen und Ver­schlie­ßen von Türen mit Schlüs­seln oder Iris-Scans arbei­ten, wenn es eine akus­ti­sche Tür gibt, »die nur auf das Stich­wort auf­geht«[36] – wen das ver­blüfft, der set­ze sich auf »die schwe­ben­den Pols­ter«[37].


Doppelausgabe Nr. 16 und 17, Herbst 2020

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