Wel­che Aus­wir­kun­gen wird das alles auf den Arbeits­markt und unser sozio­öko­no­mi­sches Han­deln haben? 

Glo­ba­li­sie­rung, Mobi­li­tät, all das sind kei­ne neu­en Begrif­fe. 1905 konn­te man in Ber­lin am Haupt­bahn­hof sowohl eine Kar­te nach Span­dau als auch eine nach Peking kau­fen. Wenn ich heu­te nach Peking möch­te, muss ich deut­lich mehr Klimm­zü­ge machen. All die­se Ent­wick­lun­gen waren kei­ne qua­li­ta­ti­ven Sprün­ge, viel­mehr haben sie sich breit, in ver­schie­de­nen Pro­duk­ti­ons­be­rei­chen rea­li­siert. Arbeit kann dadurch viel stär­ker ver­scho­ben wer­den, so wer­den zum Bei­spiel Arbeits­plät­ze in den Osten ver­la­gert und wie­der zurück­ge­holt wer­den. Wir wer­den vir­tu­el­ler arbei­ten kön­nen, der Arbeits­platz als begrenz­ter Raum wird sich ver­flüch­ti­gen, und es wird neue Räu­me geben, wo wir uns phy­sisch begeg­nen. Am Bei­spiel der Nie­der­lan­de zeigt sich, das die Ent­wick­lung hin zum »Home Office« zwin­gend not­wen­dig war. Wenn alle Nie­der­län­der jeden Tag zu ihrem Arbeits­platz per Pkw fah­ren wür­den, wäre das eine Kata­stro­phe für die­ses klei­ne Land. Den Arbeits­platz mit einem fes­ten Büro und mei­nem Ses­sel wird es in die­ser Form nicht mehr geben.

Wie muss sich die schu­li­sche oder betrieb­li­che Aus­bil­dung von jun­gen Men­schen ver­än­dern, um adäquat auf die Zukunft vorzubereiten?

Alle Kul­tu­ren gin­gen von einem Bil­dungs­fun­da­ment aus, das man durch­lau­fen muss, und schluss­end­lich hat man, so die Vor­stel­lung, alle Qua­li­fi­ka­ti­ons­vor­aus­set­zun­gen, die man im (Berufs-)Leben ein­setzt und, so es nicht ganz reicht, durch Wei­ter­bil­dungs­mass­nah­men nach­bes­sern kann. In Zukunft brau­chen wir ein atmen­des Bil­dungs­sys­tem: Die Aus­bil­dungs­zei­ten wer­den ver­kürzt, durch viel Pra­xis ergänzt und zu gege­be­ner Zeit wie­der auf­ge­nom­men. Das könn­te bedeu­ten: Man wird von sechs bis neun Jah­ren zur Schu­le gehen und hört nach drei Jah­ren zunächst mal auf oder macht etwas kom­plett ande­res. Im Anschluss kann die Schu­le wie­der auf­ge­nom­men wer­den, oder man wech­selt zu einem ande­ren Lern- und Tätig­keits­be­reich. Ler­nen wird gleich­zei­tig indi­vi­du­el­ler und kol­le­gia­ler. Um Voka­beln oder mathe­ma­ti­sche Grund­kennt­nis­se zu ler­nen muss ich nicht mal mehr das Haus ver­las­sen, ich set­ze mich ein­fach in den Gar­ten und fan­ge an, mir per­fekt auf­be­rei­te­tes Wis­sen mit einem »tablet« anzu­eig­nen. Wir wer­den hin­ge­gen gemein­sam ler­nen müs­sen, wie man ein Gespräch oder einen Dis­put führt. Ich muss mich in einen Streit ein­brin­gen kön­nen und ler­nen, eine Debat­te zu beein­flus­sen. Genau dafür brau­chen wir das Gegen­über, ich kann nicht allei­ne strei­ten, aber allei­ne Gram­ma­tik ler­nen. Alles was dia­lo­gisch, inter­ak­tiv ist, braucht sozia­le Lern­or­te – die Schu­le ist nur einer davon, und wenn es dort nur noch um einen guten Rang­platz beim Pisa-Test geht, dann ist er für vie­les, was wich­ti­ger wird, kein beson­ders guter Ort.

Brau­chen wir in Zukunft mehr Gene­ra­lis­ten oder mehr Spezialisten?

Gene­ra­li­sie­ren­de Spe­zia­lis­ten, also Per­so­nen die sehr viel mono­dis­zi­pli­nä­res Wis­sen haben, sehr, sehr früh aber die Gren­zen ihrer jewei­li­gen Dis­zi­plin erken­nen und Pro­ble­me durch trans­dis­zi­pli­nä­res Den­ken zu lösen ver­mö­gen. Inter­dis­zi­pli­nä­res Den­ken reicht nicht, es ist nur ein Repa­ra­tur­prin­zip. Trans­dis­zi­pli­när Den­ken­de wer­den Men­schen sein, die undis­zi­pli­niert sind, nur die wer­den die neu­en Dis­zi­pli­nen her­vor­brin­gen. Dazu muss ich aber das eige­ne Fach­ge­biet beherr­schen, denn nur dann kann ich anfan­gen, zu kri­ti­sie­ren und die Gren­zen zu über­win­den. Als Arbeits­wis­sen­schaft­ler muss ich auch Berei­che der Arbeits­me­di­zin, -päd­ago­gik etc. begrif­fen haben, um mein Fach wirk­lich fun­da­men­tal kri­ti­sie­ren und letzt­lich berei­chern zu kön­nen. Es wird nicht so sein, dass die Dicho­to­mie »Gene­ra­list ver­sus Spe­zia­list« Bestand haben wird, es wer­den gene­ra­li­sie­ren­de Spe­zia­lis­ten sein oder sich spe­zia­li­sie­ren­de Generalisten.

Wohin wird sich in der Zukunft der Schwer­punkt ihrer For­schung ver­la­gern, wie wird sich ihr For­schungs­ge­biet verändern?

Die gesam­te Wis­sen­schaft wird sich ver­än­dern. Wenn ich mich heu­te in ein neu­es Gebiet ein­ar­bei­te, dann suche und lese ich wochen­lang »abs­tracts« und Arti­kel. Ich kann mir gut vor­stel­len, dass die For­schungs­er­geb­nis­se sich soweit algo­rith­mie­ren las­sen, dass ich ein Such­pro­gramm anwen­den kann, um her­aus­zu­fin­den, wel­che Stu­di­en sich etwa mit dem Sin­nerle­ben in der Arbeit befasst haben und auch gleich­zei­tig die Desi­de­ra­te her­aus­ar­bei­tet. Den Wis­sen­schaft­ler braucht es dann für den schöp­fe­ri­schen Teil: Wel­che Theo­rien müs­sen her­an­ge­zo­gen wer­den, wel­ches Unter­su­chungs­de­sign braucht es, um die offe­nen Fra­gen zu beantworten?

Was wird sich in ihrer eige­nen For­schungs­ar­beit verändern?

Nicht nur in der eige­nen Dis­zi­plin tie­fer boh­ren zu wol­len, nicht nur kon­ver­gen­tes Wis­sen zu pro­du­zie­ren, son­dern auch diver­gen­tes Wis­sen für die Pra­xis bereit zu stel­len – wir müs­sen viel mehr in die Wis­sens­brei­te gehen. Im Moment sind wird noch sehr damit beschäf­tigt, mit noch mehr Varia­blen die zwölf­te Dezi­ma­le des eige­nen Fachs, eines Moti­va­ti­ons­mo­dells etwa, her­aus­zu­fin­den; und dabei gehen uns die ganz­zah­li­gen Antei­le, z. B. die Pra­xis­re­le­vanz ver­lo­ren. Das wird die Zukunft nicht brauchen.

Wel­che ist ihre größ­te Angst vor der Zukunft?

Das mag über­heb­lich klin­gen, aber ich habe kei­ne Angst vor der Zukunft. Da sie unbe­kannt ist, sehe ich dar­in eher eine Chan­ce, erle­be eher das Gegen­teil von Angst: Ich wer­de stau­nend die nächs­ten Erkennt­nis­se wahr­neh­men und ler­nen, sie in klei­nen Schrit­ten, hin zu einer sich wei­ter­ent­wi­ckeln­den Gesell­schaft umzu­set­zen. Die Ängs­te vor der men­schen­lee­ren Fabrik oder vor der Glo­ba­li­sie­rung basie­ren für mich auf feh­len­der Auf­klä­rung. Wir haben ver­säumt die Men­schen mit­zu­neh­men und zu zei­gen, dass es kein Gewinn-Ver­lust-Spiel ist, son­dern dass etwas viel­leicht jetzt gera­de oppor­tun ist, sich in Zukunft aber auch in eine kom­plett ande­re Rich­tung wen­den kann: zwei Schrit­te vor, einen zurück, unter Umstän­den auch drei! Nur wenn Ver­ab­so­lu­tie­run­gen, Ver­ein­sei­ti­gun­gen und unkri­ti­sche Ver­län­ge­run­gen von Trends nicht rela­ti­viert wer­den, lösen sie Ängs­te aus. Müss­te ich Ängs­te for­mu­lie­ren, bezö­gen sie sich viel mehr auf die gegen­wär­ti­ge Gesell­schafts­ent­wick­lung. Vie­le jetzt gebo­re­ne wer­den in man­chen Län­dern, Russ­land zum Bei­spiel, nicht mehr so alt wie ihre Eltern. Jeder fünf­te Mensch der kom­men­den Gene­ra­tio­nen hat im Lau­fe sei­nes Lebens vier bis fünf depres­si­ve Atta­cken. Auch das ängs­tigt mich nicht per­sön­lich, da ich glau­be, genü­gend sozia­le Ein­bin­dung und Selbst­wirk­sam­keit zu haben, so dass es mich nicht trifft. Viel­leicht ist es aber auch ein­fach nur unrea­lis­ti­scher Opti­mis­mus. Auf gesell­schaft­li­cher Ebe­ne ängs­tigt mich, dass nicht wahr­ge­nom­men wird, was das bedeu­tet. Mit Hys­te­ri­kern konn­te man noch rela­tiv gut leben. Bis ins frü­he zwan­zigs­te Jahr­hun­dert führ­ten über­for­dern­de Arbeits­be­din­gun­gen eher zu hys­te­ri­schem Ver­hal­ten. Man schlug mit der Faust auf den Tisch, es flo­gen Kaf­fee­tas­sen durch die Kan­ti­ne. Der depres­si­ve Mensch erlebt nicht nur kei­nen Antrieb, son­dern kei­ne Reso­nanz mit sei­ner Umwelt, das ist beängs­ti­gend für uns alle.


Ausgabe Nr. 7, Herbst 2015

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