Schon die Anti­ke war sich also des Dop­pel­we­sens der Erin­ne­rung bewußt, erkann­te Nut­zen und Nach­teil der His­to­rie für das Leben. (Nietz­sche, dem Ken­ner der anti­ken Phi­lo­so­phie und Rhe­to­rik, waren die­se Ideen natür­lich ver­traut.) Erin­ne­rung kann zur Last wer­den, wenn sie unter­schieds­los alles sam­melt, was ihr begeg­net, unab­hän­gig davon, ob das, was erin­nert wird, auch wirk­lich wert ist, auf­be­wahrt zu wer­den. Die retro­spek­ti­ve Aus­rich­tung des Gedächt­nis­ses und der His­to­rie ist unter dem Ein­fluss Pla­tons in Euro­pa ziem­lich beherr­schend gewor­den, bis jener Nea­po­li­ta­ner die rhe­to­ri­sche Gegen­rich­tung wie­der­ent­deck­te. Ihm ist es zu ver­dan­ken, dass die »welt­erin­nern­de memo­ria und die welt­schöp­fe­ri­sche phan­ta­sia« erneut zum Bund zusam­men­fan­den; wie wir wis­sen, mit gewal­ti­gen Folgen. 

Ich will mich nun nicht etwa in deren laby­rin­thi­sche Wei­ten ver­lie­ren, aber doch zum Schluß noch eini­ge Kreuz­punk­te andeu­ten. Vico blieb zu sei­ner Zeit ziem­lich wir­kungs­los. Erst Hegel ent­deck­te die frucht­ba­re Keh­re, deu­te­te das Prin­zip der moder­nen Welt als Anfangs- und Vor­aus­set­zungs­lo­sig­keit und setz­te ihm sei­ne dia­lek­ti­sche Auf­fas­sung von Geschich­te ent­ge­gen. Danach bewegt sie sich stän­dig fort, in jeder neu­en Stu­fe hebt sie das über­lie­fer­te Abbild des Ver­gan­ge­nen auf, bewahrt es damit einer­seits, über­schrei­tet im sel­ben Akt aber sei­ne Gren­zen und tritt in ver­än­der­ter Gestalt her­vor. Es ist für uns nicht mehr schwie­rig, in die­sem Geschichts­ver­ständ­nis die Pha­sen des rhe­to­ri­schen Pro­duk­ti­ons­pro­zes­ses und die Spu­ren der schöp­fe­ri­schen imi­ta­tio wie­der­zu­fin­den, von wel­chen ich gespro­chen habe. Dar­in ist doch auch ein sehr moder­nes Ver­hält­nis zur Zeit mit­be­deu­tet: die Nach­ah­mung hat­te sich, dank ihres Pra­xis­be­zugs, auf die­je­ni­gen Züge des über­lie­fer­ten Modells zu rich­ten, die das Vor­aus, das Zukünf­ti­ge und das ihnen gegen­über Neue schon immer mit­mei­nen. In der 14. sei­ner aus Hegels Geist for­mu­lier­ten geschichts­phi­lo­so­phi­schen The­sen hat Wal­ter Ben­ja­min den Zukunfts­be­zug des Ver­gan­ge­nen, dem dia­lek­tisch der Ver­gan­gen­heits­be­zug des Gegen­wär­ti­gen ent­spricht, mit einem uns ver­trau­ten Bei­spiel poin­tiert: »Die Geschich­te«, schreibt er, »ist Gegen­stand einer Kon­struk­ti­on, deren Ort nicht die homo­ge­ne und lee­re Zeit, son­dern die von ›Jetzt­zeit‹ erfüll­te bil­det. So war für Robes­pierre das anti­ke Rom eine mit Jetzt­zeit gela­de­ne Ver­gan­gen­heit, die er aus dem Kon­ti­nu­um der Geschich­te her­aus­spreng­te. Die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ver­stand sich als ein wie­der­ge­kehr­tes Rom.«

Wenn wir uns im Lich­te sol­cher Gedan­ken den Zustand der aktu­el­len Lite­ra­tur und Bered­sam­keit ver­ge­gen­wär­ti­gen, sieht man die Fol­gen einer geschichts­ver­ges­sen auf die ewi­ge Gegen­wart fixier­ten Pra­xis. Ob aus Über­druss oder Unkennt­nis, aus Bil­dungs­not oder hybri­der Absicht ver­zich­ten ihre Autoren auf Ori­en­tie­rung und Wett­streit mit den Mus­tern, den Vor­bil­dern und Idea­len, die doch Füh­rung und Anti­zi­pa­ti­on zugleich bie­ten. Nach­ah­mung ist aber – recht und das heißt ihrem his­to­ri­schen Ursprung und prak­ti­schen Wesen nach ver­stan­den –: pro­duk­ti­ve Erin­ne­rung, in ihr sind Wie­der­auf­nah­me und Ori­gi­na­li­tät aufs engs­te ver­bun­den, und Abbil­den geht über in Fortbilden.

Las­sen Sie mich mit dem Mahn­ruf eines moder­nen, sel­ber höchst imi­ta­tio-tüch­ti­gen Autors schlie­ßen, näm­lich mit den Wor­ten Her­mann Brochs, die am Ende sei­nes gro­ßen Zeit­ro­mans »Die Schlaf­wand­ler« ste­hen: »… im Auf­stand des Irra­tio­na­len, aus­lö­schend das Ich und sei­ne Gren­zen durch­bre­chend, Zeit und Ent­fer­nung auf­he­bend, im Orkan des Eisi­gen, im Stur­me des Hin­ein­stür­zens … tönt die Stim­me, die das Gewe­se­ne mit allem Künf­ti­gen ver­bin­det und die Ein­sam­keit mit allen Ein­sam­kei­ten, und es ist nicht die Stim­me der Furcht­bar­keit und des Gerichts, zag­haft tönt sie im Schwei­gen des Logos, den­noch von ihm getra­gen, empor­ge­ho­ben über den Lärm des Nicht­exis­ten­ten, es ist die Stim­me des Men­schen und der Völ­ker, die Stim­me des Tros­tes und der Hoff­nung und der unmit­tel­ba­ren Güte: ›Tu dir kein Leid! Denn wir sind alle noch hier!‹«

»Wir sind alle noch hier!«


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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