Als voll­ends frucht­bar erwies sich der so ein­ge­lei­te­te Para­dig­men­wech­sel nach dem Ende der Tyran­nis, als nun gänz­lich neue, näm­lich demo­kra­ti­sche For­men der poli­ti­schen Herr­schaft sich durch­setz­ten, die ohne unmit­tel­ba­res Vor­bild waren, sich auf die Ver­gan­gen­heit nur in Fra­gen der Sozi­al­tech­nik und der insti­tu­tio­nel­len Orga­ni­sa­ti­on von Herr­schaft bezie­hen oder durch Rück­griff auf sehr alte, ursprüng­li­che Ver­hält­nis­se wie in den mytho­lo­gi­schen Kul­tur­ent­ste­hungs­theo­rien Legi­ti­ma­ti­ons­kraft erwer­ben konn­ten. In Volks­ver­samm­lung und Volks­ge­richt ver­fing also der unmit­tel­ba­re Rekurs auf das Her­ge­brach­te nicht mehr, wenn es dar­um ging, Ent­schei­dun­gen hier und jetzt zu begrün­den – er hät­te im Gegen­teil jeden Ver­such in Miß­kre­dit gebracht. Dar­aus erwuchs eine Schwie­rig­keit. Das wich­tigs­te Instru­ment, um in den neu­en Insti­tu­tio­nen durch­set­zungs­kräf­ti­ge Urtei­le und damit Hand­lungs­op­tio­nen zu gewin­nen, war die red­ne­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung gewor­den, die in frü­he­ren Epo­chen Usus einer klei­nen Eli­te gewe­sen war und nun jedem Bür­ger zur Ver­fü­gung ste­hen soll­te. Mit dem Ziel: über den Con­sen­sus poli­ti­sche Herr­schaft zu orga­ni­sie­ren. Dabei hat­te sich nun ein merk­wür­di­ger Umstand her­aus­ge­stellt, den Aris­to­te­les am Anfang sei­ner Rhe­to­rik fast bei­läu­fig erwähnt: daß näm­lich eini­ge Red­ner ziem­lich regel­mä­ßig erfolg­reich agier­ten, ande­re gleich­falls regel­mä­ßig Mißer­fol­ge ein­ste­cken muß­ten, wäh­rend eine drit­te Grup­pe hin und wie­der Ein­zel­er­fol­ge ver­bu­chen konnte.

Die Fra­ge nach den Ursa­chen lag nahe, man unter­such­te die Reden der erfolg­rei­chen Red­ner nach den Bedin­gun­gen ihres Gelin­gens, gewann Metho­den und Tech­ni­ken, die das zufäl­li­ge zu einem siche­ren Kön­nen mach­ten, weil sie gelehrt und gelernt wer­den konn­ten. Ein gewal­ti­ger Fort­schritt. Die ers­ten Lehr­bü­cher über­haupt in der euro­päi­schen Geschich­te waren Samm­lun­gen von Mus­ter­re­den, die sich nach Inhalt, Struk­tur und sprach­li­cher Mach­art zum Vor­bild typi­scher Rede­si­tua­tio­nen eig­ne­ten. Als Vor­bild frei­lich, das man nicht etwa eins zu eins über­neh­men konn­te, die Glaub­wür­dig­keit des Mus­ter­stücks hät­te bei blo­ßer Wie­der­ho­lung schnell gelit­ten. Es kam also auf die maß­ge­ben­de Situa­ti­on an, ihren Erfor­der­nis­sen muss­te das Ide­al ange­passt wer­den, damit es sei­ne Glaub­wür­dig­keit nicht verlor.

Doch war­um erzäh­le ich Ihnen die­se alte und vie­len gewiß nicht unbe­kann­te Geschich­te, zudem noch in gebo­te­ner Kür­ze und ide­al­ty­pi­scher Ver­ein­fa­chung? Weil aus dem poli­ti­schen und ideo­lo­gi­schen Macht­ver­lust der über­wun­de­nen alten Welt das Bedürf­nis nach neu­en Instru­men­ten der Daseins­si­che­rung und des staat­li­chen Han­delns folg­te. Das aber ver­än­der­te not­wen­di­ger­wei­se den Umgang mit der Über­lie­fe­rung, sie fun­gier­te nicht als Zwangs­sys­tem, son­dern als Reser­voir von Model­len, die geprüft, den neu­en Ver­hält­nis­sen gemäß geän­dert und in ihrer Über­zeu­gungs­kraft erneu­ert wer­den muß­ten. Die rhe­to­ri­sche und als­bald für geis­ti­ge Pro­duk­tio­nen uni­ver­sal gel­ten­de Kate­go­rie, die den kom­ple­xen Sach­ver­halt benann­te, hieß in Athen »mime­sis«, in Rom »imi­ta­tio«. Sie war, wenn man sich Ursprung und Auf­ga­be ver­ge­gen­wär­tigt, in sich wider­sprüch­li­cher, vor allem kom­ple­xer, als es spä­te­re Ver­falls­for­men den Nach­ge­bo­re­nen sug­ge­rie­ren und deren meist ein­di­men­sio­na­le Kri­tik inspi­rie­ren soll­ten. Qui­n­i­ti­li­an, Cice­ro­nia­ner durch und durch, ers­ter vom Staat bezahl­ter Prä­zep­tor, Vater der euro­päi­schen Päd­ago­gik und Autor des bedeu­tens­ten Lehr­werks der Rhe­to­rik, fängt ganz all­ge­mein an, wenn er die Bedeu­tung der imi­ta­tio erläu­tert: »Unser Leben zeigt ja über­all den Grund­satz, daß wir das, was wir bei ande­ren gut fin­den, auch selbst tun wol­len. So rich­ten sich die Kna­ben nach den Füh­rungs­li­ni­en der Buch­sta­ben, um Schreib­erfah­rung zu gewin­nen, so rich­ten die Musi­ker auf die Stim­me der Leh­rer, die Maler auf die Wer­ke ihrer Vor­gän­ger, die Land­wir­te auf den Anbau, der durch Erfah­rung erprobt ist, als Vor­bild ihr Augen­merk; kurz wir sehen, daß die Anfangs­grün­de [!] in jedem Lehr­fach ihre fes­te Form in einer Vor­schrift fin­den, die ihnen schon vor­liegt.« Doch dann fügt er sogleich hin­zu: »Aber gera­de die Tat­sa­che, daß die Nach­ah­mung die Aus­füh­rung aller Auf­ga­ben so viel leich­ter macht, als sie für die war, die nichts hat­ten, wonach sie sich rich­ten konn­ten, kann Scha­den stif­ten, wenn man hier­bei nicht behut­sam und mit eige­nem Urteil vorgeht.«

Wir wis­sen nun schon, was mit sol­cher War­nung gemeint ist. Die anthro­po­lo­gi­sche Ansicht, die hin­ter Quin­ti­li­ans so prag­ma­tisch klin­gen­den Bemer­kun­gen steht, hat die Viru­lenz des Imi­ta­tio-Kon­zepts bis heu­te, bis zu die­ser Tagung hin, garan­tiert. Daß der Mensch näm­lich ein »von der Natur im Stich gelas­se­nes Män­gel­we­sen« ist, so Hans Blu­men­berg. Nach­ah­mung ersetzt ihm die feh­len­den Instink­t­re­ser­ven und siche­ren Ein­pas­sungs­struk­tu­ren. Ihre in der Pra­xis para­do­xe Struk­tur hat Fran­cis Bacon in die von ihm irr­tüm­li­cher­wei­se anti­rhe­to­risch gemein­te For­mel gefasst: »natu­ra paren­do vin­ci­tur«, die Natur wird durch Gehor­chen besiegt. Oder eben: Durch Nach­ah­men gewinnt man das Neue.

Machen wir es uns noch ein­mal klar: Nach­fol­gen und Über­schrei­ten sind die­ser Dok­trin fol­gend nicht Gegen­sät­ze, son­dern hän­gen eng zusam­men. Das Mus­ter, das ich nach­ah­me, stammt zwar aus ver­gan­ge­nen Pra­xis­ver­hält­nis­sen, doch die dar­in ent­hal­te­nen Qua­li­tä­ten der Gelun­gen­heit machen es taug­lich, um in neu­er Situa­ti­on sich bewäh­ren zu kön­nen, sofern sie ange­mes­sen berück­sich­tigt wird. Der­art wird das Vor­bild zum Gegen­stand rhe­to­ri­scher Phan­ta­sie und das bereits im Unter­richt. Der Schü­ler stu­dier­te die Mus­ter­re­den, die oft, wie im Fal­le auch von Iso­kra­tes oder Quin­ti­li­an, der Leh­rer für die­sen Zweck und sei­ner­seits Vor­bil­dern fol­gend geschrie­ben hat­te. Ihre Kopie war nicht beab­sich­tigt. In ihrer Manier hat­te der Adept his­to­ri­sche The­men, wirk­li­che Pro­zes­se oder erfun­de­ne Fäl­le zu bear­bei­ten. »Was soll Aga­mem­non tun, nach­dem ihm der Seher Kal­chas erklärt hat, nur die Opfe­rung Iphi­ge­nies, der eige­nen Toch­ter, ver­mö­ge Arte­mis dazu zu brin­gen, der grie­chi­schen Flot­te ihre Über­fahrt nach Tro­ja zu gestat­ten? Soll sich Cice­ro bitt­fle­hend an sei­nen Tod­feind Anto­ni­us wen­den, um sein Leben zu ret­ten? Soll er sich bereit fin­den, sei­ne Schrif­ten zu ver­nich­ten, wenn Anto­ni­us ihm unter die­ser Bedin­gung Scho­nung verspricht?«


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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