Der Schü­ler hat­te Pro und Con­tra, Anklä­ger und Ver­tei­di­ger wech­sel­wei­se zu ver­tre­ten. Man­fred Fuhr­mann berich­tet uns von die­sem Schul­be­trieb, der oft in der Rou­ti­ne der immer glei­chen Exem­pel erstick­te, aber auch Fähig­kei­ten zur Varia­ti­on, neue Argu­men­te zu fin­den und in alten Stof­fen über­ra­schen­de Bei­spie­le zu ent­de­cken, för­der­te. Gele­gent­lich schlug dabei die imi­ta­tio, ins Extrem getrie­ben, in phan­tas­ti­sche Ori­gi­na­li­tät um: »Man ließ dort (in den kon­stru­ier­ten Fäl­len) vor­zugs­wei­se Rand­exis­ten­zen der mensch­li­chen Gesell­schaft, etwa Räu­ber, Dir­nen oder Tyran­nen, auf­tre­ten, man sorg­te für pikan­te Situa­tio­nen und grel­le Kon­tras­te, man schrieb für die recht­li­che Wür­di­gung Geset­ze vor, die es nie gege­ben hat­te und nie geben konn­te – kurz, die Rhe­to­ren­schu­le brach­te in ihren Übungs­re­den eine Phan­ta­sie­welt her­vor, die mög­lichst krass von der All­tags­wirk­lich­keit abstach.« Nach­ah­mung schlägt in die­sen von Fuhr­mann gemein­ten Fäl­len in gera­de­zu sur­rea­lis­ti­sche Über­bie­tung um.

Vor Gericht oder in der Volks­ver­samm­lung fand das imi­ta­tio-Prin­zip natür­lich ande­re Anwen­dung: Die Nach­ah­mung funk­tio­nier­te als Mit­tel ago­na­ler Aus­ein­an­der­set­zung und hat­te deren Gren­zen nicht zu über­schrei­ten. Zuerst galt es, die Ver­fah­rens­wei­se des Geg­ners zu ken­nen, um sie benut­zen und gegen ihn keh­ren zu kön­nen; seit Prot­agoras eine grund­le­gen­de rhe­to­ri­sche Stra­te­gie, zu der auch die gro­tesk ver­zer­ren­de Imi­ta­ti­on des geg­ne­ri­schen Vor­bilds bis hin zum iro­ni­schen Zitat oder zur lächer­li­chen Kon­se­quenz gehört. Ein ago­na­les Motiv steckt hin­ter solch über­bie­ten­dem Imi­tie­ren, eine eige­ne Kate­go­rie erhebt es in den Rang der Regel: die aemu­la­tio. Die bedeu­tends­ten Theo­re­ti­ker haben dar­in Sinn und Ziel des Nach­ah­mens gesehen:

»Schimpf­lich ist es gera­de­zu, sich damit zu begnü­gen, nur das zu errei­chen, was man nach­macht. Denn noch ein­mal: was wäre gesche­hen, wenn nie­mand mehr zustan­de gebracht hät­te als sein Vor­gän­ger? Nichts hät­ten wir in der Dich­tung über Livi­us Andro­ni­cus hin­aus, nichts in der Geschichts­schrei­bung über die Pries­ter­jahr­bü­cher hin­aus, auf Flö­ßen gin­ge noch die Schif­fahrt von­stat­ten. Es gäbe kei­ne Male­rei außer der, die nur die Schat­ten­um­ris­se nach­zeich­ne­te, die die Kör­per in der Son­ne war­fen. Und so kann man es durch­ge­hen, was man will: kei­ne Kunst ist in dem Zustand geblie­ben, wie sie bei ihrer Erfin­dung war, kei­ne gleich am Anfang ste­hen geblie­ben – es sei denn, wir ver­dam­men nur gera­de unse­re eige­nen Zei­ten dazu, so unfrucht­bar zu sein, daß gera­de heut­zu­ta­ge nichts mehr wächst, wo man nur nach­ahmt.« So Quin­ti­li­an, der anti­ke Theo­re­ti­ker, der wohl am gründ­lichs­ten das para­do­xe Wesen der Nach­ah­mung bedacht hat. Schon im Ter­mi­nus sel­ber steckt des­sen Ver­pflich­tung zur Ähn­lich­keit, nicht etwa zur Iden­ti­tät mit der Vorlage.

Spä­te­re Zei­ten haben des unge­ach­tet die Rhe­to­rik auf ein star­res Regel­sys­tem, auf eine Art Maschi­ne fest­le­gen wol­len, die nur kon­ven­tio­nel­le Tex­te her­vor­bringt, indi­vi­du­el­le Impul­se unter­drückt und durch star­res Fest­hal­ten am Her­ge­brach­ten ent­wick­lungs- und geschichts­feind­lich ist. Kei­nes die­ser auch heu­te nicht ver­schwun­de­nen Vor­ur­tei­le hält der kri­ti­schen Nach­prü­fung stand. Die jeweils aktu­el­le pro­ble­ma­ti­sche Hand­lungs­wirk­lich­keit, das Pra­xis­feld der Rhe­to­rik, ver­langt situa­tiv ange­mes­se­nes, fle­xi­bles, sen­si­bel reagie­ren­des Ver­hal­ten – bei Stra­fe des Unter­gangs, jeden­falls im Extrem­fal­le. Nicht die Kopier­pra­xis steht daher im Zen­trum der Theo­rie, son­dern die­je­ni­gen Tech­ni­ken, die den Ten­den­zin­halt des Vor­bilds auf die vor­lie­gen­den Auf­ga­ben hin wei­ter­ent­wi­ckeln – d. h. Tech­ni­ken, die auf Ver­än­de­run­gen und Opti­mie­rung in einem wan­del­ba­ren, stets neu­en Kon­text zielen.

Ihr schöp­fe­ri­scher Gebrauch ver­langt das »inge­ni­um« des Autors, das zwar unter den Men­schen ungleich ver­teilt ist, aber durch Kunst, durch »ars« und »exer­ci­ta­tio« ver­voll­komm­net wer­den kann. Auf »Novi­tas«, Neu­heit, geht die Arbeit; was das heißt, möch­te ich an einem Bei­spiel, dem der soge­nann­ten vier Ände­rungs­ka­te­go­rien ver­deut­li­chen. In den sche­ma­tisch ver­kürz­ten Rhe­to­rik-Lehr­bü­chern wer­den sie oft nur in der Abtei­lung »Stil-Leh­re« behan­delt, die auch einen Kata­log von Ände­rungs­mög­lich­kei­ten im Ver­gleich mit der All­tags­re­de beinhaltet.

Das ers­te Ver­fah­ren lei­tet das Hin­zu­fü­gen von Gesichts­punk­ten, Stof­fen und Argu­men­ten an, die im Mus­ter unbe­rück­sich­tigt blie­ben und aus dem Pro­blem­feld im Lich­te neu­er Erfah­run­gen gewon­nen wer­den. Das kann, wie die fol­gen­den Tech­ni­ken auch, auf der Ebe­ne der »res« (der Sachen, des Inhalts) oder der »ver­ba« , also der Spra­che, oder drit­tens auf bei­den zugleich gesche­hen. Welch letz­te­res der Nor­mal­fall ist, da die Wahl des einen Schwer­punk­tes immer Aus­wir­kun­gen auf den ande­ren hat.

Die zwei­te Tech­nik ver­folgt das Gegen­teil der ers­ten, sie eli­mi­niert unpas­sen­de, stö­ren­de, nicht mehr über­zeu­gungs­kräf­ti­ge Bestand­tei­le aus dem Kon­text der über­lie­fer­ten Mate­rie. Bei­de Tech­ni­ken las­sen sich ver­fei­nern, etwa nach Umfang und Art der Hin­zu­fü­gung oder Weg­nah­me, oder auch topo­lo­gisch nach dem Ort des ver­än­dern­den Ein­griffs im Gan­zen der Vor­la­ge – doch möch­te ich mich nicht all­zu­sehr in Ein­zel­hei­ten vertiefen.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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