War­um ver­fährt sie der­art auf­wen­dig und demen­tiert eigent­lich die ratio­na­le Bestim­mung ihrer Insti­tu­tio­nen? Weil die­se Imi­ta­tio nicht for­mal bleibt, wie in vie­len lite­ra­ri­schen Bei­spie­len, son­dern Bedürf­nis­se erfüllt, die unbe­frie­digt der neu­en Herr­schaft gefähr­lich wer­den könn­ten. Ein ande­res Bei­spiel erle­ben wir täg­lich in unse­ren Muse­en. In der Zeit, in der die Kunst ihre lebens­dien­li­che Macht längst ver­lo­ren hat, stürmt das Publi­kum in sol­chen Mas­sen die Gale­rien, dass es das­je­ni­ge gefähr­det, was es auf­sucht. War­um nur? muss man sich fra­gen, und tat­säch­lich kommt hier ein Motiv ins Spiel, das bis­her nur gele­gent­lich ein­mal anklang. Nach­ah­mung ist über ihre Funk­ti­on der Qua­li­täts­si­che­rung, bes­ser Qua­li­täts­stei­ge­rung hin­aus, auch ein Instru­ment der Erin­ne­rung, der Kanon ein Ort des kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses. In die­sem Ver­ständ­nis hat man schon früh den Dich­ter »janus­köp­fig« genannt, er bli­cke näm­lich »vor­aus und zurück, schei­de das Fal­sche vom Wah­ren, ver­glei­che das Künf­ti­ge mit dem Ver­gan­ge­nen«. Das Ori­gi­nel­le als iso­lier­ter Selbst­zweck ent­behrt voll­kom­men die­ser für die mensch­li­che Geschich­te wesent­li­chen Dimen­si­on. Der voll­kom­mens­te Aus­druck des iso­liert Ori­gi­nel­len ist die Mode, in wel­cher Wal­ter Ben­ja­min die ewi­ge Wie­der­ho­lung des Neu­en gese­hen hat.

Womit ich zum Schluss auf eine Dimen­si­on des hier erör­ter­ten The­mas kom­me, das nun weit die pro­duk­ti­ons­tech­ni­schen Fra­gen hin­ter sich läßt, obwohl sie in ihnen durch­aus zu erken­nen sind. Denn es waren geschicht­li­che Sta­tio­nen, die der Kanon mar­kier­te und zur Erneue­rung zur Ver­fü­gung stell­te, nicht etwa bloß muse­al prä­sen­tier­te. Sei­ne Ent­ste­hung aus der imi­ta­tio-Dok­trin und sei­ne Ver­pflich­tung auf die jeweils zur Debat­te ste­hen­de Hand­lungs­wirk­lich­keit wirk­te wie ein Fer­ment auf und in der alten fami­li­en­recht­lich fixier­ten Gedächt­nis­kul­tur. Deren retro­spek­ti­ve Rich­tung ver­weist auf ihre Ent­ste­hung aus dem Toten­kult. Eine viel­zi­tier­te Anek­do­te berich­tet davon. Ich will sie Ihnen nicht vorenthalten.

Der berühm­te Red­ner und Dich­ter Simo­ni­des von Keos der im 5. Jahr­hun­dert leb­te und in Athen wirk­te, hat­te von einem rei­chen Faust­kämp­fer den Auf­trag erhal­ten, ein Preis­lied auf des­sen Sieg in einem Wett­kampf zu ver­fas­sen. Simo­ni­des trug das Lied wäh­rend eines Gast­mahls vor, doch war der Auf­trag­ge­ber unzu­frie­den, da der Dich­ter sich zur Aus­schmü­ckung recht flei­ßig des Lobes von Kas­tor und Poly­deu­kes bedien­te. Simo­ni­des erhielt nur die Hälf­te des Hono­rars: »Die ande­re Hälf­te hol dir gefäl­ligst von den Dio­s­ku­ren, die du so aus­führ­lich gelobt hast!«, höhn­te der Olym­pia-Sie­ger. Die Göt­ter lie­ßen sich nicht lum­pen, aller­dings anders als gedacht. Jeden­falls wird wei­ter­erzählt, daß Simo­ni­des bei fort­ge­schrit­te­nem Mahl vor die Tür gebe­ten wur­de, zwei Män­ner begehr­ten ihn zu spre­chen. Er ging hin­aus, fand nie­man­den, doch bevor er sich wie­der zurück­wen­den konn­te, stürz­te hin­ter ihm der Fest­saal zusam­men. Die Trüm­mer begru­ben alle Anwe­sen­den unter sich, ver­stüm­mel­ten sie bis zur Unkennt­lich­keit, so daß die Ver­wand­ten, die ihre Toten begra­ben woll­ten, in Ver­le­gen­heit gerie­ten. Doch da sich Simo­ni­des erin­ner­te, an wel­cher Stel­le jeder ein­zel­ne geses­sen hat­te, war schließ­lich doch noch eine Iden­ti­fi­ka­ti­on mög­lich. Cice­ro, der den legen­dä­ren Fall berich­tet, schließt mit dem Resü­mee: »Durch die­sen Vor­fall auf­merk­sam gemacht, mach­te er (Simo­ni­des) damals aus­fin­dig, daß es beson­ders die Ord­nung sei, die dem Gedächt­nis Licht verschaffe.«

Das Gedächt­nis, so die zwei­te Bot­schaft der Geschich­te, dient dem Andenken der Toten. Die Leben­den begru­ben sie um der Erin­ne­rung wil­len, und aus die­sen Riten erwuch­sen die Insti­tu­tio­nen, die Giam­bat­tis­ta de Vico, der nea­po­li­ta­ni­sche Rhe­to­rik-Phi­lo­soph, so prä­zi­se ordi­ni nennt, die Ord­nun­gen der Über­lie­fe­rung also, die sich in Geschichts­schrei­bung oder Biblio­theks­we­sen, in Denk­mals­kunst oder Muse­en mani­fes­tier­ten. Sie sind Aus­druck einer Gedächt­nis­kunst, einer ars memo­ra­ti­va, bekannt­lich immer schon ein Teil der Rede­kunst; mit ihrer Hil­fe präg­te sich der Red­ner sei­ne Rede im Gedächt­nis ein. Simo­ni­des soll dar­aus ein flo­rie­ren­des Geschäft als Gedächt­nis­trai­ner gemacht haben. Eines Tages aber habe er dem Poli­ti­ker The­mis­to­kles sei­ne Diens­te ange­bo­ten, so berich­tet eine ande­re Anek­do­te, und sich eine Abfuhr ein­ge­han­delt. Denn, ant­wor­te­te ihm der ver­sier­te Red­ner gera­de­zu ent­setzt, er brau­che kei­ne Gedächt­nis­kunst, son­dern im Gegen­teil eine Kunst des Ver­ges­sens, ars obli­vio­nis, weil sein natür­li­ches Erin­ne­rungs­ver­mö­gen der­art voll­kom­men gear­tet sei, dass nichts, was er ein­mal gehört oder gese­hen habe, wie­der von ihm los­ge­las­sen und ver­ges­sen wer­den könne.


Doppelausgabe Nr. 8 und 9, Herbst 2016

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