Wir sind die Bösen: Die neue Propagandastrategie
Die Taten vom 7. Oktober markieren eine Abkehr von der bisherigen Taktik: Während die Hamas bisher der Weltöffentlichkeit bewusst friedfertig erscheinen wollte und Bilder von palästinensischer Gewalt nur einem stark radikalisierten arabischsprachigen Publikum vorbehalten waren, will sie sich nun in aller menschenmöglichen Brutalität zeigen. Besonders fällt auf, dass in den Videos des Angriffs fast ausschließlich Gewalt gegen Zivilisten gezeigt wird (s. Abb. 5), obwohl Israelis in der Propaganda der Hamas bisher immer als Soldaten auftauchten, um weniger Empathie zu wecken.
Nun zeigt die Hamas explizit Akte der Brutalität gegen Unschuldige. Die Gewaltexzesse des Überfalls auf Dörfer und das Nova-Festival dürfen nicht missverstanden werden als ein blindwütiger Blutrausch; die sadistischen Tötungsmethoden folgen einer geplanten Methode, die darauf abzielt, die maximale mediale Aufmerksamkeit zu erhalten. Beim Überfall auf das Nova-Festival konnten die Terroristen damit rechnen, dass die Festivalbesucher ihr eigenes Leid per Handykamera dokumentieren würden; zusätzlich filmten die Täter ihre eigenen Handlungen und stellten sie online[6]. Auch die öffentlichen Leichenschändungen wurden von der Hamas dokumentiert und auf den sozialen Plattformen gestreut. Das Phänomen der »Gamification of Terror«, das besonders durch die antisemitischen Anschlägen in Halle und Christchurch an Aufmerksamkeit gewonnen hat, hat spätestens damit die Welt des Islamismus erreicht: Mord als Livestream auf dem Bildschirm, Schüsse aus der first person view wie bei einem Ego-Shooter (s. Abb. 6).
Besonders perfide ist eine Taktik, die die Täter mehrmals einsetzten: Sie zwangen gefangengenommene Israelis, sich in ihre social-media-accounts einzuloggen, filmten sich dabei, wie sie die Gefangenen ermordeten und posteten die Videos der Taten über die Accounts der Opfer, damit die Angehörigen den Mord mit ansehen mussten[7]. Diese Vorgehensweise lässt sich nicht allein mit dem blinden Hass auf Juden erklären; sie ist Teil einer Propaganda, die die Verbreitung von Angst zum Ziel hat. Es ist ein psychologischer Terror, der die israelische Gesellschaft traumatisieren soll, um die Moral des Gegners zu brechen. In dieser Denkweise ist es nur logisch, dass der Angriff nicht der militärischen Infrastruktur Israels galt, sondern vor allem Zivilisten zum Ziel hatte: Der Tod eines Soldaten im Kampfeinsatz trifft den Betrachter weniger schmerzvoll als der Mord an friedlichen Familien, Kindern, Babys und Festivalbesuchern. Es ist ein Morden, das uns näher ist, weil es nicht auf einem weit entfernten Schlachtfeld stattfindet, sondern in der eigenen Küche, im Kinderzimmer und auf dem Spielplatz. Die Botschaft ist klar: Ihr könnt euch nirgendwo sicher fühlen, denn wir sind überall.
Diese Taktik führt uns als Betrachter in eine Zwickmühle: Sollen wir all die schrecklichen Bilder und Videos teilen oder nicht? Wir wollen die Welt darauf aufmerksam machen, zu welchen unmenschlichen Taten die Hamas fähig ist, wir wollen unser Mitleid mit den Opfern ausdrücken, wir wollen unserer Anteilnahme Ausdruck verleihen – doch mit einem Klick auf den »share«-button helfen wir der Hamas, ihre Terrorpropaganda zu teilen. Die Hamas kalkuliert unseren Willen, sie anzuprangern, mit ein und macht uns dadurch unwillentlich zu Mittätern: Jedes Bild eines Opfers, jedes Interview mit den verstörten Überlebenden, jedes Video, das Rettungskräfte inmitten blutverschmierter Privatwohnungen zeigt, hilft der Hamas, das Trauma tiefer in den Köpfen der israelischen Gesellschaft zu verankern.
Ferner fällt das Pathos auf, das bei diesem Angriff zum Einsatz kam: Bedeutungsschwanger wurde als Termin der 7. Oktober gewählt, der fünfzigste Jahrestag des Ausbruchs des Yom-Kippur-Krieges; jenes Überraschungsangriffs auf Israel, der zwar mit einer militärischen Niederlage, aber einem propagandistischen Sieg der arabischen Staaten endete und der die israelische Gesellschaft nachhaltig traumatisierte. Auch, dass dieser Jahrestag auf den Simchat Thora, einen besonders fröhlichen jüdischen Feiertag fiel, dürfte bei der Auswahl des Datums eine Rolle gespielt haben. So wird der Angriff symbolisch nicht nur im Voraus zu einem neuen moralischen Sieg über Israel verklärt, sondern auch ein Feiertag, der bisher ausgelassen gefeiert wurde, als Tag der Trauer und der Angst neu besetzt. Eine rhetorische Besonderheit hat sich dabei im Vergleich zur früheren Propaganda nicht geändert: Auch weiterhin bedient die Hamas eine melodramatische arabisch-muslimische Gruppenidentität, die Araber und Muslime auf der ganzen Welt im Hass auf Israel vereinen soll. Besonders deutlich wird das am »Tag des Zorns«, den der ehemalige Hamas-Führer Khaled Mashaal für den 13. Oktober ausgerufen hatte: Muslime auf der ganzen Welt sollten sich vereint dem Kampf gegen Israel anschließen und eine »Botschaft des Zorns« senden[8]. Die 2017 erschienene Studie »Antisemitismus in Deutschland« stellt fest, dass ein Grund für Antisemitismus unter arabisch und muslimisch geprägten Jugendlichen eine muslimisch-arabische Kollektividentität ist, bei der sich die betreffenden Personen »eine von allen Muslimen geteilte Ablehnung gegen Juden«[9] imaginieren. Der Appell der Hamas an ebendiese Kollektividentität ist also ein besonders wirksames Instrument antisemitischer Radikalisierung.
- [6] o. A.: Krieg der Bilder. In: Website der taz, https://taz.de/Nahost-Konflikt/!5963808/; 19.10.2023, Abrufdatum: 1.11.2023.
- [7] o. A.: Hamas-Terroristen nutzen Facebook für psychologische Kriegsführung. In: Website von Der Standard, https://www.derstandard.de/story/3000000191811/hamas-terroristen-nutzen-facebook-fuer-psychologische-kriegsfuehrung; 19.10.2023, 17 Uhr; Abrufdatum: 1.11.2023; siehe auch: Cohen, Li: Israeli woman learned of grandmother’s killing on Facebook – after militant uploaded a video of her body. In: Website von CBS News, https://www.cbsnews.com/news/mor-bayder-grandmother-killed-hamas-attack-facebook-video/; 11.10.2023, Abrufdatum: 2.11.2023.
- [8] Kiffmeier, Jens; Wagner, Robert; Akkoyun, Nail: Hamas-Aufruf zum »Tag des Zorns«: Verfassungsschutz warnt vor Anschlägen – Frankreich erhöht Alarmstufe. In: Website der Frankfurter Rundschau, https://www.fr.de/politik/polizei-hamas-israel-tag-des-zorns-proteste-demonstration-palaestina-berlin-zr-92575256.html; 13.10.2023.
- [9] Anne Frank Zentrum e. V., Bundesministerium des Innern / Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hg.): Antisemitismus in Deutschland. Aktuelle Entwicklungen. Berlin 2017. S. 76; siehe auch: Frindte, Wolfgang; Boehnke, Klaus; Kreikenbom, Henry; Wagner, Wolfgang; Bundesministerium des Innern (Hg.): Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Berlin 2011. S. 621.