Mythos 2: »digital natives«
Da wäre zunächst die Erzählung der Digitalisierungsgeschichte mithilfe der ethnografischen Begrifflichkeit von »Eingeborenen« und »Einwanderern«. Seit der Pädagoge und Manager Marc Prensky in zwei einschlägigen Artikeln 2001 das Begriffspaar »digital natives« und »digital immigrants« geprägt hat, ist es aus der Debatte um die Digitalisierung nicht mehr wegzudenken. Seine mythenbildende Kraft bezieht dieses Begriffspaar aus dem assoziativ mitgedachten Pioniermythos der amerikanischen Siedler.
Bemerkenswert ist dabei die – vermutlich nicht bewusst erfolgende – Vertauschung der Bedeutungen: In der historischen Vorlage sind die Siedler (»immigrants«) die Pioniere, die die neue Zeit verkörpern. Diese Verwendung des »Go West«-Mythos dominiert auch seine früheren Adaptationen, etwa in Howard Rheingolds einflussreicher Beschreibung der Entstehung des zivilen Internets unter dem Titel »Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier«. In der Prensky-Variante dagegen sind die »natives« die Pioniere, also diejenigen, die mit den digitalen Medien aufgewachsen oder, wie John Palfrey und Urs Gasser es 2008 pointiert formuliert haben, »digital geboren« sind. Zu dieser Generation sollen diejenigen gehören, die 1980 und später zur Welt kamen, die »Generation Internet«, auch – etwas irreführend – die »millennials« genannt.
Hier geht es nicht darum, ob das eine sinnvolle Unterscheidung ist. Es interessiert einzig, wie der in (oder hinter) einem solchen Begriffspaar gleichsam kondensierte narrative Gehalt ihm eine zusätzliche Bedeutung und Tiefe verleiht. Und wie er ihn – im vorliegenden Fall durch die Kopplung mit einem machtvollen Mythos aus einem anderen Bereich, eben demjenigen der Pioniere – noch mit zusätzlicher Bedeutsamkeit auflädt.
Mythos 3: Singularität
Ein mächtiger Verbündeter erwächst der Digitalisierung (und insbesondere dem Mythos der künstlichen Intelligenz) aus der Koppelung mit dem Singularitätsmythos. Im Hintergrund steht dabei erneut die Idee der Ersetzung des Menschen durch sogenannt »intelligente« Leistungen von Maschinen. Wird dieses seit der Antike immer wiederkehrende Narrativ mit zeitlichen Voraussagen kombiniert, ergibt sich jene merkwürdige Mischung, die man als »Prognose in Permanenz« bezeichnen kann und die sich auch durch das Nichteintreten des von ihr Prognostizierten nicht widerlegen lässt. Weniger akademisch formuliert: Wir alle kennen – aus Vor-Corona-Zeiten – die kleinen Zettel an Bürotüren, auf denen «Bin gleich zurück« stand. Da das »gleich« keinen zeitlichen Index, beispielsweise eine Uhrzeit, enthält, sind diese Zettel immer wieder verwendbar. Diese Prognose in Permanenz drückt zudem häufig ein Leistungsversprechen aus, beispielsweise: In x (in der Regel 5) Jahren werden wir y erreicht haben.
Auf unseren Fall angewendet: In x Jahren werden alle menschlichen (Intelligenz-)Leistungen von Maschinen nicht nur erreicht, sondern übertroffen werden. Und dieser Zeitpunkt wird seit 1993, als Vernor Vinge dieses Leistungsversprechen (»greater than human intelligence«) am Vision-21-Symposium populär machte, als »singularity« bezeichnet. Die Argumentation bedient sich dabei einer rekursiven Variante des sogenannte Mooreschen Gesetzes: Schon an der Entwicklung der IT lässt sich die für exponentielles Wachstum verantwortliche Verdopplungsdynamik ablesen; je mehr künstliche Intelligenz aber ihrerseits in die Entwicklung eingreift, desto stärker wird diese sich zusätzlich beschleunigen.