Bis zur Wortwahl («The Singularity is Near« – »Das Reich Gottes naht«) bedient sich der Singularitätsmythos dieses archetypischen Musters. Er bezieht also seine Kraft aus der endzeitspezifischen Formulierung, die die Assoziation der frühchristlichen Parusie-Erwartung auslöst.
Das Ende ist nah, aber es schreitet mit der Verheißung einher, dass anschließend ein Zustand erreicht wird, der eine unerhörte, zuvor nie da gewesene Welt eröffnet. Um diesen Zustand auch nur gedanklich zu skizzieren, bedarf es jedoch eines veritablen »sacrificium intellectus«, anders: Es bedarf des Denkens des Undenkbaren. Konkret gilt es, sich eine Situation vorzustellen, die per definitionem unvorstellbar ist: Singularität ist ja dadurch definiert, dass die erreichte Super- oder Hyperintelligenz alle menschlichen Intelligenzleistungen nicht nur erreicht, sondern überbietet.
Kurz und prägnant zusammengefasst: Wäre einmal der Zustand erreicht, dass die geschaffene («künstliche») Intelligenz alle menschlichen Intelligenzleistungen überstiege, gäbe es für diese auch keine Möglichkeit mehr, die dadurch eröffneten Zukunftsoptionen vorherzusagen. Darüber hinaus könnten wir es nicht einmal bemerken, wenn dieser Zustand erreicht wäre. So betrachtet, könnte es durchaus sein, dass er schon lange eingetreten ist. Und das ist beruhigend. Wenn es nämlich keinen für uns wahrnehmbaren Unterschied macht, ob dieser Zustand erreicht ist oder nicht, spielt es für uns auch keine Rolle.
Damit aber verliert der Mythos seine treibende Kraft. Entweder wird er zu einer historischen Episode, ebenso wie es im Falle des Mythos der denkenden Maschine heute niemandem in den Sinn käme, ernsthaft zu meinen, ein iPhone könne denken und wir müssten ihm Intelligenz zuschreiben. Oder aber es wird uns aus anderen tiefen Bewusstseinsschichten ein neuer Mythos erwachsen, denn ebenso wie nach Bruno Bettelheim Kinder Märchen brauchen, benötigt jede technologische Entwicklung ihre Mythen.
Dieser Essay wurde zuerst am 11. Januar 2021 in der »Neuen Zürcher Zeitung« veröffentlicht. Wir danken für die Nachdruckgenehmigung.