Mythos 4: Endzeit
Nun würde es sich hierbei nicht um einen dermaßen erfolgreichen Mythos handeln, wenn sich in seiner Formulierung über den erhobenen Befund hinaus nicht ein Anklang an eine andere archetypisch besetzte Seite unseres Bewusstseins fände. Das lässt sich besonders schlagend an einem Buchtitel zeigen: Der derzeitige Guru der Singularitätsbewegung, Raymond Kurzweil, seines Zeichens Autor, Erfinder, Computerwissenschafter, Zukunftsforscher und Director of Engineering bei Google, betitelte 2005 sein einschlägiges Buch, das inzwischen Klassikerstatus erreicht hat, mit »The Singularity is Near«.
Der damit assoziierte Mythos ist der einer nahenden Endzeit, und zwar nicht irgendwann, sondern präzise im Jahr 2045! Noch weiter vorgewagt hatte sich übrigens bereits Vernor Vinge, als er 1993 in dem erwähnten Essay den Zeitraum von 2005 bis 2030 nannte – also jetzt!
Für unseren Zusammenhang ist indessen nicht primär das prognostizierte Datum, sondern insbesondere die mythenbildendeAssoziation zu dem archetypischen Narrativ von Bedeutung, das in der christlichen Religion unter dem Begriff »eschatologische Naherwartung« bekannt ist: Was die frühchristliche Gemeinde zusammenhielt, war nicht zuletzt die Vorstellung der Wiederkunft (Parusie) von Jesus Christus am Jüngsten Tag und der Errichtung eines Gottesreiches auf Erden (Chiliasmus). Darüber, wann sich diese »letzten Dinge« (griech. »eschata«) ereignen würden, herrschte Uneinigkeit: Auf der einen Seite existierte die Überzeugung, dass das Ende nahe sei und es noch zu Lebzeiten der Jünger dazu kommen werde (Naherwartung), auf der anderen Seite verfestigte sich die Überzeugung einer »Parusieverzögerung«.
Nur nebenbei: Die frühchristliche Gemeinde brachte sich durch dieses Narrativ der Naherwartung an den Rand der Selbstvernichtung. Der Teil der Gemeinde, der an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft und die dann erfolgende Errichtung des Gottesreiches auf Erden glaubte, verlegte sich – analog zur Lukas-Version der Geschichte von Maria und Martha (Lk 10, 38–42) – aufgrund dieser eschatologischen Naherwartung darauf, zu beten, statt für den Lebensunterhalt zu arbeiten. Die Gemeindeältesten (Presbyter), welche die darin lauernde Gefahr erkannten, lösten das Problem durch die Entwicklung des theologischen Konzepts der Gottwohlgefälligkeit der Arbeit, das die christliche und zumal die protestantische Arbeitsethik bis heute prägt.