Essay
Künstliche Intelligenz und Mythen
Übernimmt KI irgendwann die Macht?
Die menschliche Welt ist ohne Algorithmen nicht mehr zu denken. Zugleich überhöht der Mensch jedoch seine eigenen Erfindungen – und verzweifelt darob fast. Die Digitalisierung erobert die Welt. Das beruht zwar zum einen auf ihren unbestritten erstaunlichen Leistungen. Zum anderen aber auch auf ihren Weggefährten: den sie machtvoll begleitenden Mythen.
Mythen sind tiefsitzende, im Sinne von C. G. Jung archetypische Erzählungen, mit denen wir Menschen uns dem »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg) dadurch zu entziehen versuchen, dass wir ihm einen tieferen Sinn geben.
Mythos 1: künstliche Intelligenz
Ein prominentes Beispiel dafür ist der Mythos der denkenden Maschine. Vor dem Hintergrund der antiken Utopie automatisierter Arbeit (Aristoteles) und der neuzeitlichen Konzeption des Menschen als einer Maschine (La Mettrie) wird im Kontext der Entwicklung der ersten Computer im 20. Jahrhundert die Vorstellung von Denkmaschinen aufgegriffen, in der Formulierung von Pamela McCorduck: “Machines Who Think.”
Und der legendäre Alan Turing scheint schon 1950 im Titel seines epochemachenden Aufsatzes »Computing Machinery and Intelligence« die Verbindung zu einem weiteren heute dominierenden Mythos herzustellen: dem der künstlichen Intelligenz (KI). Allerdings avant la lettre. Die Bezeichnung »künstliche Intelligenz« (»artificial intelligence«) taucht nämlich erst 1955 auf: Eine Gruppe junger Wilder um den noch nicht ganz 28-jährigen John McCarthy, damals Assistenzprofessor für Mathematik, verwendet ihn prominent in ihrem Antrag auf Förderung einer Konferenz, die dann, von der Rockefeller Foundation finanziert, im Sommer 1956 am Dartmouth College stattfand. Ein häufig vernachlässigter Aspekt im Gründungsmythos der KI ist jedoch, dass McCarthy diesen Begriff bewusst wählte, um die Bezeichnungen »Automatentheorie« und »Kybernetik« zu vermeiden und so die Koryphäe Norbert Wiener nicht einladen zu müssen.
Dass die aus dieser »Dartmouth-Verschwörung« entstandene Namengebung derart erfolgreich war, lag sicher zum einen daran, dass die jungen Wilden die Mehrdeutigkeit des Begriffs »Intelligenz« nicht nur in Kauf nahmen, sondern geradezu zu einem Markenzeichen machten. »Artificial intelligence« bedeutet nämlich im Englischen auch etwas so Unspektakuläres wie »technische Informationsverarbeitung«, und allein daraus hätte kein Mythos entstehen können. Zum anderen aber überlebte der Digitalisierungsmythos der denkenden Maschine und der künstlichen Intelligenz die zwei als »KI-Winter« bekannt gewordenen herben Rückschläge nicht zuletzt deswegen, weil sich zu Beginn unseres Jahrhunderts zwei stützende Mythen um sie herum zu ranken anfingen.