Essay

Künstliche Intelligenz und Mythen

Übernimmt KI irgendwann die Macht?

Von Walther Ch. Zimmerli


Die mensch­li­che Welt ist ohne Algo­rith­men nicht mehr zu den­ken. Zugleich über­höht der Mensch jedoch sei­ne eige­nen Erfin­dun­gen – und ver­zwei­felt dar­ob fast. Die Digi­ta­li­sie­rung erobert die Welt. Das beruht zwar zum einen auf ihren unbe­strit­ten erstaun­li­chen Leis­tun­gen. Zum ande­ren aber auch auf ihren Weg­ge­fähr­ten: den sie macht­voll beglei­ten­den Mythen.

Mythen sind tief­sit­zen­de, im Sin­ne von C. G. Jung arche­ty­pi­sche Erzäh­lun­gen, mit denen wir Men­schen uns dem »Abso­lu­tis­mus der Wirk­lich­keit« (Blu­men­berg) dadurch zu ent­zie­hen ver­su­chen, dass wir ihm einen tie­fe­ren Sinn geben.

Mythos 1: künst­li­che Intelligenz

Ein pro­mi­nen­tes Bei­spiel dafür ist der Mythos der den­ken­den Maschi­ne. Vor dem Hin­ter­grund der anti­ken Uto­pie auto­ma­ti­sier­ter Arbeit (Aris­to­te­les) und der neu­zeit­li­chen Kon­zep­ti­on des Men­schen als einer Maschi­ne (La Mettrie) wird im Kon­text der Ent­wick­lung der ers­ten Com­pu­ter im 20. Jahr­hun­dert die Vor­stel­lung von Denk­ma­schi­nen auf­ge­grif­fen, in der For­mu­lie­rung von Pame­la McCor­duck: “Machi­nes Who Think.”

Und der legen­dä­re Alan Turing scheint schon 1950 im Titel sei­nes epo­che­ma­chen­den Auf­sat­zes »Com­pu­ting Machi­nery and Intel­li­gence« die Ver­bin­dung zu einem wei­te­ren heu­te domi­nie­ren­den Mythos her­zu­stel­len: dem der künst­li­chen Intel­li­genz (KI). Aller­dings avant la lett­re. Die Bezeich­nung »künst­li­che Intel­li­genz« (»artificial intel­li­gence«) taucht näm­lich erst 1955 auf: Eine Grup­pe jun­ger Wil­der um den noch nicht ganz 28-jäh­ri­gen John McCar­thy, damals Assis­tenz­pro­fes­sor für Mathe­ma­tik, ver­wen­det ihn pro­mi­nent in ihrem Antrag auf För­de­rung einer Kon­fe­renz, die dann, von der Rocke­fel­ler Foun­da­ti­on finan­ziert, im Som­mer 1956 am Dart­mouth Col­lege statt­fand. Ein häufig ver­nach­läs­sig­ter Aspekt im Grün­dungs­my­thos der KI ist jedoch, dass McCar­thy die­sen Begriff bewusst wähl­te, um die Bezeich­nun­gen »Auto­ma­ten­theo­rie« und »Kyber­ne­tik« zu ver­mei­den und so die Kory­phäe Nor­bert Wie­ner nicht ein­la­den zu müssen.

Dass die aus die­ser »Dart­mouth-Ver­schwö­rung« ent­stan­de­ne Namen­ge­bung der­art erfolg­reich war, lag sicher zum einen dar­an, dass die jun­gen Wil­den die Mehr­deu­tig­keit des Begriffs »Intel­li­genz« nicht nur in Kauf nah­men, son­dern gera­de­zu zu einem Mar­ken­zei­chen mach­ten. »Artificial intel­li­gence« bedeu­tet näm­lich im Eng­li­schen auch etwas so Unspek­ta­ku­lä­res wie »tech­ni­sche Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung«, und allein dar­aus hät­te kein Mythos ent­ste­hen kön­nen. Zum ande­ren aber über­leb­te der Digi­ta­li­sie­rungs­my­thos der den­ken­den Maschi­ne und der künst­li­chen Intel­li­genz die zwei als »KI-Win­ter« bekannt gewor­de­nen her­ben Rück­schlä­ge nicht zuletzt des­we­gen, weil sich zu Beginn unse­res Jahr­hun­derts zwei stüt­zen­de Mythen um sie her­um zu ran­ken anfingen.