Ihre Ähn­lich­keit kommt in einer star­ken erzäh­le­ri­schen Par­al­le­li­tät zu Aus­druck. Dar­über hin­aus ver­bin­det die bei­den Män­ner ein gemein­sa­mer Kon­flikt. Bei­de Prot­ago­nis­ten lei­den unter Knie­schmer­zen, die der Zuschau­er am Ende des Spots auf das häu­fi­ge Beten in knie­en­der Hal­tung zurück­füh­ren kann. Die­ser Kon­flikt wird mit freund­li­cher Unter­stüt­zung von Ama­zon im Lau­fe der Hand­lung über­wun­den, erzäh­le­risch ver­packt wie folgt: Um dem Freund etwas Gutes zu tun, kom­men bei­de Män­ner unab­hän­gig von­ein­an­der auf die Idee, dem jeweils ande­ren über Ama­zon Knie­ban­da­gen zukom­men zu las­sen. Auch hier tritt das Motiv der Par­al­le­li­tät auf. Am Ende der Geschich­te knien sich bei­de Män­ner – mit Knie­ban­da­gen und somit ohne Schmer­zen – hin, um zu beten. Auf die­se Wei­se insze­niert sich die Mar­ke auch in die­sem Bei­spiel als Pro­blem­lö­ser. Der vira­le Erfolg des Spots grün­det jedoch dar­auf, dass das Unter­neh­men mit die­ser Para­bel dar­über hin­aus ein »Glau­bens­be­kennt­nis« für Tole­ranz und Akzep­tanz ablegt. 

Abb. 5: Die­se letz­ten Ein­stel­lun­gen des Spots zei­gen die Auf­lö­sung der Geschich­te, in der sich bei­de Män­ner ohne Schmer­zen zum Beten nie­der­knien. In der aller­letz­ten Ein­stel­lung ist das Ama­zon Logo zu sehen, um die Aus­sa­ge der Geschich­te zu »bran­den«.

Mar­ken bezie­hen zuneh­mend Stand­punk­te inner­halb gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se um ihr Image zu steu­ern. Anlass zu die­sem Spot im spe­zi­el­len dürf­te ohne Zwei­fel die zuneh­men­de Anzahl reli­gi­ös-moti­vier­ter Ter­ror­an­schlä­ge in Euro­pa sein. Ein gesell­schaft­li­ches The­ma mit Reso­nanz, die sich in Gefüh­len wie Unsi­cher­heit und Ent­frem­dung aus­drückt. Auf die­ses Unbe­ha­gen reagiert Ama­zon in Form des TV-Spots und spricht damit die Sor­gen vie­ler Men­schen an. Mit sei­ner Geschich­te plä­diert das Unter­neh­men für ein fried­vol­les Zusam­men­le­ben von Men­schen ver­schie­de­ner Her­kunft, Kul­tur und Glau­bens­rich­tung und beweist zugleich, dass dies mög­lich ist. Ganz im Sin­ne des weih­nacht­li­chen Gedan­kens, der Nächstenliebe.

Die Wahr­schein­lich­keit, dass der Auf­ruf – unter­schied­li­che Lebens­wei­sen, Ansich­ten und Hal­tun­gen zu tole­rie­ren – auf offe­ne Ohren stößt, ist in der west­li­chen Welt ver­gleichs­wei­se hoch. Somit ist das Risi­ko, mit die­ser Aus­sa­ge dem Image der Mar­ke zu Scha­den, gering – im Gegen­teil. Sich für das gesell­schaft­li­che Wohl ein­zu­set­zen, scheint der­zeit der bes­te Weg, das Image zu stär­ken. Aber wer hat eigent­lich gesagt, dass man sei­nen Wor­ten Taten fol­gen las­sen muss? Ein Lip­pen­be­kennt­nis scheint zu genü­gen. Denn abge­se­hen von der Bot­schaft ihres TV-Spots war Ama­zon nicht dafür in der Pres­se prä­sent, dass es tat­säch­lich aktiv etwas für die ange­prie­se­nen Wer­te getan hat. Das hat dem Erfolg die­ser Kom­mu­ni­ka­ti­ons­maß­nah­me jedoch kei­nen Abbruch getan, nicht zuletzt, weil sie die rich­ti­gen Emo­tio­nen ange­spro­chen hat.

Das höchs­te der Gefüh­le: Das per­sua­si­ve Poten­ti­al der Erzählung

Mit Erzäh­lun­gen las­sen sich nicht nur Infor­ma­tio­nen ver­mit­teln, son­dern in die­sem Zuge auch Emo­tio­nen im Rezi­pi­en­ten aus­lö­sen. Durch die­se emo­tio­na­le Kom­po­nen­te sind sie in der Lage, die Ener­gie der Zuhö­rer zu ent­fa­chen, wie es eine rein fak­ten­ba­sier­te Argu­men­ta­ti­on nicht ver­mag.[28] Die hohe vira­le Reso­nanz zu dem Ama­zon Prime TV-Spot spie­gelt die akti­vie­ren­de Wir­kung wider, die Geschich­ten haben kön­nen. McKee ist des­halb der Ansicht, dass die Per­sua­si­on durch Geschich­ten effek­ti­ver ist als die Per­sua­si­on durch Fak­ten. Zumal laut sei­ner Erfah­rung letz­te­re schnell in Fach­chi­ne­sisch abzu­drif­ten droht.[29]

In Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass beim Ein­satz von Geschich­ten zur Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­ti­on ver­stärkt über Emo­tio­nen argu­men­tiert wird, die vom Gehirn nicht kogni­tiv ver­ar­bei­tet wer­den, drängt sich die Fra­ge auf, ob der Betrach­ter mani­pu­liert wird. Auch Autoren beschäf­ti­gen sich mit der Fra­ge, ob das Erzäh­len von Geschich­ten einen mani­pu­la­ti­ven Aspekt beinhal­tet. Stein schreibt bei­spiels­wei­se: »Die Gefüh­le des Publi­kums zu wecken, hat das nicht auch einen unan­ge­neh­men Bei­geschmack? Es kenn­zeich­net eini­ge der größ­ten Ver­bre­cher unse­res Jahr­hun­derts, daß sie Men­schen in ihren Bann gezo­gen haben, indem sie ihre Gefüh­le mani­pu­lier­ten.«[30] McKee ver­weist dar­auf, dass bereits der grie­chi­sche Phi­lo­soph Pla­ton behaup­te­te, Geschich­ten­er­zäh­ler sei­en gefähr­li­che Leu­te.[31] Die Fra­ge, ob es sich bei Sto­rytel­ling um Mani­pu­la­ti­on han­de­le, ver­neint er jedoch. Es sei legi­tim, eine »truthful Sto­ry« zu erzäh­len, um Men­schen von der eige­nen Sache zu über­zeu­gen.[32] Das ent­schei­den­de Wort in die­sem Zusam­men­hang dürf­te das Wort »auf­rich­tig« sein. Wie man die­ses facet­ten­rei­che Wort aus­legt, scheint dage­gen jedem selbst über­las­sen. Es mag aber etwas dran sein an der Pla­ton zuge­schrie­be­nen The­se: “Tho­se who tell the Sto­ries rule society.”