Essay
»Postfaktisch« – Rhetorik und Ästhetik des Wahlkampfs
Zum Design der Politik: Grundlagen und Details
Laut dem deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel erfasst Philosophie ihre Zeit in Gedanken[1], und gemeint ist damit das »Wissen des Substantiellen ihrer Zeit«[2] Hegels Ansprüchen wird das Folgende sicher nicht gerecht, ich werde nicht mehr als eine knappe Zeitdiagnose abzugeben versuchen.
1 Über Fakten und Wahrheit
Zum Einstieg in diese Zeitdiagnose betrachtete ich in einem mit »›Postfaktisch‹ – Rhetorik und Ästhetik des Wahlkampfs« überschriebenen Vortrag bei einer Tagung in Ingelheim über »Design der Politik – Politik des Designs« gemeinsam mit dem Publikum eine Meldung, die in einer Zeitung zu lesen war:
Sprache
»Postfaktisch« ist Wort des Jahres
Die Oxford Dictionaries haben das Wort »post-truth« (postfaktisch) zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt. Das teilte der Verlag am Mittwoch auf seiner Webseite mit.
Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde, heißt es in einem Auszug aus dem Wörterbuch. »Angetrieben von dem Aufstieg der Sozialen Medien als Nachrichtenquelle und einem wachsenden Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden«, habe das Konzept des Postfaktischen seit einiger Zeit an Boden gewonnen, sagte Oxford-Dictionaries-Chef Casper Grathwohl.
Untersuchungen hätten ergeben, dass sich der Gebrauch des Wortes »postfaktisch« im Jahr 2016 im Vergleich zum Jahr davor drastisch erhöht habe, hieß es weiter. Vor allem im Zusammenhang mit dem Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU und den Präsidentschaftswahlen in den USA habe der Begriff einen Höhepunkt erlebt.
Oxford Dictionaries ist in seiner Bedeutung für die englische Sprache vergleichbar mit dem Duden.
Was konnten die Hörer des Vortrages nach dem Anhören dieser Meldung sagen? Das eine ist, dass sie die Inhalte, zumindest zum Teil, wiedergeben konnten, die sie gerade gehört hatten. Sie konnten aber mehr sagen: In der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung im Weiterbildungszentrum in Ingelheim stand ein Referent namens Volker Friedrich, seines Zeichens Professor für Schreiben und Rhetorik – so wurde er zumindest vorgestellt, man müsste diese Angaben prüfen –, der behauptete, dass in einer Zeitung eine Meldung gestanden habe, die er gerade zu Gehör gebracht hatte. Ist dem so, stand in einer Zeitung tatsächlich diese Meldung? Konnten die Vortragshörer das sicher wissen? Der Referent stellte ja eine Tatsachenbehauptung auf: In einer Zeitung habe eine Meldung gestanden … Vielleicht hat der Mann das einfach erfunden? Bei der geringen Präzision, die der Referent bei seinen Behauptungen geboten hatte, war das sehr schwer nachzuprüfen. Mittels heutiger Medien lässt sich das zwar etwas leichter nachprüfen als früher, aber so ganz ohne wäre eine Nachprüfung in diesem Falle nicht.
Was hätte der Referent also tun müssen, um den Hörern diese Nachprüfung zu erleichtern? Er konnte zum Beispiel mitteilen: »Diese Meldung war am 17. November 2016 zu lesen.« Damit bekämen die Hörer eine weitere Tatsachenbehauptung, mit der sie schon etwas mehr nachprüfen könnten. Sie hätten vielleicht noch mehr damit anfangen können, wenn der Referent gesagt hätte, diese Meldung habe in der »Stuttgarter Zeitung« vom 17.11.2016 standen. Vielleicht würde er noch genauer und würde sagen, die Meldung habe in der »Stuttgarter Zeitung« vom 17.11.2016 gestanden und zwar auf der Seite 31. Vielleicht sagte er noch mehr und sagte es noch genauer, nämlich die Meldung habe in der »Stuttgarter Zeitung« vom 17.11.2016 gestanden, im Kulturteil, auf der Seite 31, und zwar in der rechten Spalte, die zweite Meldung von oben sei es gewesen.
Der Referent sagte das tatsächlich, und nun hatten seine Zuhörer eine sehr präzise Angabe, die sie relativ leicht prüfen könnten, sie hätten sich nur die »Stuttgarter Zeitung« von jenem Tag besorgen müssen. Mittels elektronischer Medien wäre wohl auch recherchierbar, ob die »Stuttgarter Zeitung« tatsächlich solch eine Meldung veröffentlicht hat – die genaue Position der Meldung in der Druckausgabe aber eher nicht.
Vielleicht sagte der Referent auch noch, dass es eine Meldung der »Deutschen Presseagentur« (dpa) war. In dem Fall könnten seine Zuhörer auch bei der »Deutschen Presseagentur« nachzuprüfen versuchen, ob das stimme, ob der Referent die Wahrheit gesagt habe und etwas behaupte, das den Tatsachen entspricht – oder eben nicht. All das ließe sich mit diesen genaueren Angaben überprüfen.
»Friedrich hat nicht gelogen, das stimmt, was er sagt, das haben wir überprüft, er sagt die Wahrheit« – sollte das Vortragspublikum zu diesem Schluss gekommen sein, dann hat es ein Konzept von Wahrheit akzeptiert, das für die Diskussion über das »Postfaktische« wichtig ist. Warum das für diese Diskussion wichtig ist, wird später noch mittels einiger philosophischer Überlegungen erläutert.