Frage und Antwort

Rhetorik und Designsysteme

Heiner Mühlmann über Innovationen der Renaissance

Von Viktoria Kirjuchina


Vik­to­ria Kir­juchi­na: In Ihren Tex­ten über die Kul­tur der frü­hen Neu­zeit wird dem Medi­um Rhe­to­rik eine beson­de­re Bedeu­tung bei­gemes­sen. Bei den ita­lie­ni­schen Huma­nis­ten bei­spiels­wei­se ver­füg­te jeder über meh­re­re Kom­pe­ten­zen. Leon Bat­tis­ta Alber­ti war Male­rei­theo­re­ti­ker, Archi­tekt und Archi­tek­tur­theo­re­ti­ker und außer­dem Jurist, Phi­lo­soph, Mathe­ma­ti­ker und Thea­ter­au­tor. Unge­ach­tet der Sum­me an Kom­pe­ten­zen, hat­ten die Huma­nis­ten gemein­sam, dass sie mit der Pra­xis und dem Wis­sens­ge­bäu­de der Rhe­to­rik beson­ders ver­traut waren. Kön­nen Sie die Rol­le der Rhe­to­rik in die­sem Zusam­men­hang den Lesern von »Spra­che für die Form« erklären?

Hei­ner Mühl­mann: Die span­nends­te Epo­che der ita­lie­ni­schen Renais­sance ist eigent­lich die Zeit, als die Renais­sance noch nicht sicht­bar war. Damit mei­ne ich: es gab noch kei­ne Renais­sance-Male­rei und es gab noch kei­ne Renais­sance-Archi­tek­tur. Es war die Zeit des Tre­cen­to, die Zeit von Coluc­cio Salu­ta­ti, Fran­ces­co Petrar­ca und Gio­van­ni Boc­ac­cio. Wenn Rhe­to­rik ein Kampf­in­stru­ment ist, dann gelang­te die­ses Kampf­in­stru­ment in die­ser Zeit zum Ein­satz. Aber nicht auf einem Forum und durch die Stim­me eines Red­ners, son­dern in Papier­form und geschrie­ben. Das Medi­um war der diplo­ma­ti­sche Brief. Die Spra­che war Latein. Die­ses Medi­um gab es bereits im Mit­tel­al­ter. Der Flo­ren­ti­ner Stadt­kanz­ler Salu­ta­ti hat es mit den Rhe­to­rik­kennt­nis­sen, die er sich ange­eig­net hat­te, zu einer wir­kungs­vol­len Waf­fe gemacht. Und in die­ser Zeit hat­ten Rhe­to­rik und die neu­en Tech­ni­ken der Renais­sance wirk­lich Ein­fluss auf die Poli­tik und auf poli­ti­sche Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen. 

Denn in Flo­renz war der Kapi­ta­lis­mus erfun­den wor­den, und Flo­renz wur­de immer rei­cher. Das hal­be Ita­li­en war von dem Mai­län­der Tyran­nen Gian Galeaz­zo Vis­con­ti erobert wor­den. Flo­renz wur­de von Vis­con­ti nei­disch beäugt, denn es war noch frei. Gegen Ende des Jahr­hun­derts wur­de es von der Mai­län­der Armee bela­gert. Zu die­ser Zeit schrieb Salu­ta­ti sei­ne diplo­ma­ti­schen Brie­fe an ande­re ita­lie­ni­sche Städ­te und warb um Ver­bün­de­te. Sein Erz­feind Vis­con­ti sag­te von die­sen Brie­fen, jeder ent­spre­che einem mili­tä­ri­schen Erfolg. Salu­ta­ti, der Stadt­kanz­ler von Flo­renz, schaff­te es, sei­ner Stadt ihre Frei­heit zu bewahren.

Man muss sich vor­stel­len, dass die Rhe­to­rik­spra­che zu die­ser Zeit Latein war. Also kei­ne Volks­spra­che. Und dass die rhe­to­ri­schen Tech­ni­ken zunächst an die latei­ni­sche Spra­che gebun­den waren, dass sie sich somit nur an die Eli­ten rich­ten konn­ten, die des Latei­ni­schen mäch­tig waren. Auf die­se Wei­se war Rhe­to­rik vor­han­den, aber nicht als Erleb­nis für das gan­ze Volk. Sie lag gewis­ser­ma­ßen in der Luft. Das gilt auch für die Zeit zwei Gene­ra­tio­nen spä­ter, als Alber­ti und Bru­nel­le­schi leb­ten. Zu die­ser Zeit wur­de die Renais­sance nach und nach sicht­bar. Es ent­stan­den die Wun­der­wer­ke der bil­den­den Küns­te, die heu­te von der gan­zen Welt bestaunt werden.

Die­se Rhe­to­rik, die in der Luft lag, mate­ria­li­siert sich zu einem kul­tu­rel­len Sys­tem, und zwar nicht nur im Medi­um Spra­che. Die­ses Sys­tem hat­te fol­gen­de Struk­tur­merk­ma­le. Da gab es zunächst so etwas wie einen ord­nungs­po­li­ti­schen Rah­men. Er haf­tet an der Rhe­to­rik aller Zei­ten wie ein Schat­ten. Es war das römi­sche Staats­recht mit sei­ner Ein­tei­lung sakral ver­sus pro­fan und öffent­lich ver­sus pri­vat. Die­se Ein­tei­lung funk­tio­nier­te wie Räu­me. Die Rhe­to­rik pass­te sich die­sen Räu­men an. Aber Ach­tung! Das Wort »Raum« ist hier nur eine Metapher.

Die Anpas­sung an die­se ord­nungs­po­li­ti­schen Räu­me wur­de vom decorum-Sys­tem geleis­tet. Im decorum gab es einen erha­be­nen Stil und einen nied­ri­gen Stil und vie­le Abstu­fun­gen dazwi­schen. Somit han­del­te es sich beim decorum um ein ska­lier­tes Sys­tem. Merk­mal des erha­be­nen Stils war das Aus­lö­sen von star­ken nega­ti­ven Emo­tio­nen. Beim nied­ri­gen Stil ging es eher humor­voll und idyl­lisch zu. Die­se Ska­lie­rung ent­spricht der Ska­lie­rung des römi­schen Staats­rechts. Dem öffent­lich Sakra­len ent­sprach die erha­be­ne Stil­la­ge, dem pri­vat Pro­fa­nen ent­sprach die nied­ri­ge Stillage.

Die­ses kul­tu­rel­le Orga­ni­sa­ti­ons­sys­tem, decorum mit der dar­an haf­ten­den Hin­ter­grund­struk­tur »römi­sches Recht«, schlum­mert in jedem Rhe­to­rik­lehr­buch das man zur Hand nimmt, sei es von Cice­ro oder von Quin­ti­li­an,  oder von irgend einem belie­bi­gen Rhe­to­rik­leh­rer einer belie­bi­gen Epoche.

Oh, ich befürch­te mei­ne Ant­wort wird zu lang!


Doppelausgabe Nr. 14 und 15, Herbst 2019

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