1.2 Rhe­to­rik und Eido­lo­poe­tik im klas­si­schen System
Pri­vat­do­zen­tin Dr. phil. habil. Nadia J. Koch, Uni­ver­si­tät Tübingen
Tho­mas Nehr­lich, M. A., Uni­ver­si­tät Bern

Die Trenn­li­nie zwi­schen visu­el­ler und ver­ba­ler Rhe­to­rik und ihre mög­li­che Über­win­dung – die­ses The­ma roll­te Pri­vat­do­zen­tin Dr. Nadia Koch his­to­risch auf und ver­wies auf die vor­pla­to­ni­sche, sophis­ti­sche Theo­rie der tech­ne, die als Pro­duk­ti­ons­theo­rie sowohl für die Rede als auch für die bil­den­de Kunst her­an­ge­zo­gen wur­de. So wie in der Theo­rie des 5. Jahr­hun­derts v. Chr. als Ziel der Rede die Über­zeu­gung des Zuhö­rers beschrie­ben wor­den sei, so sei als Ziel der Küns­te die Wir­kung auf den Betrach­ter defi­niert wor­den – ganz im Gegen­satz zum Genie­kult des 18. Jahr­hun­derts. Bei­de, Rede und Kunst, sei­en als sys­te­ma­tisch erfass­bar und daher als lern- und lehr­bar gese­hen wor­den. Eine theo­re­ti­sche Basis, die auch den Küns­ten eine kla­re Wir­kungs­ab­sicht zuschreibt: »Erst im Fall der Per­sua­si­on des Rezi­pi­en­ten erfüllt das Werk sei­ne Bestim­mung«, so die Red­ne­rin, die auch in den Pro­duk­ti­ons­sta­di­en zahl­rei­che Par­al­le­len zwi­schen dem Ver­fas­sen der Rede und dem Her­stel­len des Bil­des und des Kunst­werks zog. Wie eng Visu­el­les und Ver­ba­les ver­zahnt waren, ver­deut­lich­te Koch mit einem Quin­ti­li­an-Zitat: »Die Rede bewirkt noch nicht genug, wenn sie bis zu den Ohren reicht.«

Wie es zur Trenn­li­nie zwi­schen der Kunst und der Rede­kunst kam, dar­auf ging Tho­mas Nehr­lich ein, der Les­sings Text »Lao­ko­on« mit der grund­le­gen­den Unter­schei­dung des Bil­des als Anord­nung im Raum und des Tex­tes als tem­po­ra­lem Akt als Schlüs­sel­mo­ment für das neu­zeit­li­che Kunst­ver­ständ­nis deu­te­te. Mit der Sti­li­sie­rung des Künst­lers als Genie und damit der Absa­ge an die Lehr­bar­keit der Kunst habe das 18. Jahr­hun­dert einen Gra­ben auf­ge­ris­sen, den es nun wie­der zu schlie­ßen gel­te, nicht zuletzt auch um der zuneh­men­den Bedeu­tung der mathe­ma­tisch-natur­wis­sen­schaft­li­chen Betrach­tungs­wei­se der Welt etwas ent­ge­gen­zu­set­zen – als Gegen­ge­wicht zur Öko­no­mi­sie­rung, deren Über­macht auch im aktu­el­len »Hype« um die Info­gra­fik eine visu­el­le Aus­drucks­form finde.

1.3 Die Geschich­te der Evi­den­tia in der Rhetoriktheorie
Prof. Dr. phil. Bernd Stein­brink, Fach­hoch­schu­le Kiel
Anni­na Schnel­ler, lic.-phil., Hoch­schu­le der Küns­te Bern

Evi­den­tia – Ver­an­schau­li­chung, Klar­heit –, so Prof. Dr. Bernd Stein­brink, ent­ste­he im Rezi­pi­en­ten nur, wenn Affek­te wirk­sam wer­den und Emo­tio­nen ange­spro­chen wer­den. Die Rhe­to­rik als rein ratio­na­le Übung zu betrach­ten, das sei daher von vorn­her­ein unmög­lich und von den anti­ken Vor­bil­dern Cice­ro und Quin­ti­li­an auch stets aus­ge­schlos­sen wor­den. Mit Rück­griff auf Cice­ro beschreibt Stein­brink die Wir­kungs­me­cha­nis­men fol­gen­der­ma­ßen: Da die Welt kein geschlos­se­nes Sys­tem sei, in dem es abso­lu­te Wahr­hei­ten gebe, müs­se sich der Red­ner eige­ne Para­dig­men schaf­fen, um glaub­haf­te Wahr­schein­lich­kei­ten her­zu­stel­len. Die­ses wie­der­um funk­tio­nie­re nur mit Hil­fe des »move­re«, der Berüh­rung des Zuhö­rers, die erzeugt wer­de durch Ver­an­schau­li­chung. Wie kom­plex die­ser Vor­gang ist, erläu­ter­te Stein­brink nicht nur im Rück­blick auf die Anti­ke, son­dern auch mit Blick auf neu­es­te bio­lo­gi­sche Erkennt­nis­se: Bei star­ker emo­tio­na­ler Erre­gung – zum Bei­spiel durch Wut oder Furcht – sei­en bestimm­te, mensch­heits­ge­schicht­lich jün­ge­re Hirn­re­gio­nen inak­tiv. Eine ver­ba­le Refle­xi­on des Affekts fin­de in die­sem Moment nicht statt. Stein­brink, der sei­ne Über­le­gun­gen auf rhe­to­ri­sche Mit­tel des Fil­mes bezieht, zog mit Cice­ro den Schluss, dass die »Abwei­chung von einer Mit­tel­la­ge« die Stär­ke der Affek­te und damit den Vor­gang der Über­zeu­gung wesent­lich beeinflusse.

Die zwin­gen­de und aus­schließ­li­che Ver­bin­dung zwi­schen Evi­den­tia und Affekt­er­re­gung sowie zwi­schen Evi­den­tia und Bild­lich­keit stell­te Anni­na Schnel­ler in ihrem Refe­rat in Fra­ge und füg­te einen wei­te­ren Aspekt für die Über­le­gung hin­zu: den der Leben­dig­keit, der in der Theo­rie­ge­bung spä­ter hin­zu­kam. Es gehe letzt­lich um eine Über­tra­gungs­leis­tung, die im Rezi­pi­en­ten erzeugt wer­den müs­se. Ent­schei­dend sei nicht das vom Rhe­tor ver­wen­de­te Bild oder Sprach­bild, son­dern was im Kopf des Rezi­pi­en­ten gesche­he. Dass die­ses Gesche­hen nicht aus­schließ­lich von Bil­dern aus­ge­löst wer­den kann, erläu­ter­te Schnel­ler auch mit Hin­blick auf Prousts »mémoi­re invo­lon­tai­re«, in dem eine Geschmacks­nu­an­ce beim Prot­ago­nis­ten ein inne­res Gesche­hen von sol­cher Leben­dig­keit, sprich Evi­den­tia, erzeu­ge, dass sich ein gan­zer Roman dar­aus ergebe.