Vor­her ist aber noch der Begriff der Text­wir­kung zu klären.

Unter der Wir­kung eines Tex­tes ver­ste­he ich die Ver­än­de­rung, die bei den Adres­sa­ten ein­tritt, weil sie den Text ver­ar­bei­tet haben.

Fest­stell­bar ist Text­wir­kung in die­sem Sin­ne allein bei den Adres­sa­ten. Aus der Pro­duk­ti­ons­per­spek­ti­ve stellt sich die Fra­ge aber indi­rekt: Wie stel­len sich die Medi­en­schaf­fen­den die Wir­kung ihrer Tex­te vor, wenn sie ihre Tex­te gestal­ten? – Die­se Wir­kungsvor­stel­lun­gen sind metho­disch zugäng­lich in pro­duk­ti­ons- und sprach­re­fle­xi­ven Äuße­run­gen; auch sie wer­den hier mit der Pro­gres­si­ons­ana­ly­se erfasst.

Methodik: Rahmen, Handlungen und Strategien der Textproduktion erfassen

Die Pro­gres­si­ons­ana­ly­se ist ein lin­gu­is­ti­scher Mehr­me­tho­den­an­satz zur Daten­ge­win­nung und -ana­ly­se, der Text­pro­duk­ti­ons­pro­zes­se direkt als kogni­tiv ver­an­ker­te Tätig­keit und indi­rekt als sozi­al ver­an­ker­te Tätig­keit erfasst.

Mit der Pro­gres­si­ons­ana­ly­se kön­nen Daten auf drei Stu­fen gewon­nen und auf­ein­an­der bezo­gen wer­den: Vor dem Schrei­ben wird mit Inter­views und teil­neh­men­der Beob­ach­tung die Arbeits­si­tua­ti­on nach­ge­zeich­net, wäh­rend des Schrei­bens mit com­pu­ter­ge­stütz­ter Beob­ach­tung die Schreib­be­we­gung ver­mes­sen, nach dem Schrei­ben mit daten­ge­stütz­ten retro­spek­ti­ven Ver­bal­pro­to­kol­len das Reper­toire der Schreib­stra­te­gien erschlossen.

Wie man die Pro­gres­si­ons­ana­ly­se anwen­den kann, zeigt der Fall NACHRICHTENBLOCK : Der Rund­funk­jour­na­list MB gestal­tet aus Agen­tur­mel­dun­gen eine Aus­ga­be der Nach­rich­ten­sen­dung von Radio 32, berei­tet den Text zum Spre­chen vor und spricht schließ­lich die Nach­rich­ten live über den Sen­der (Per­rin 2006, S. 102, 129, 147, 153, 173). An die­sem Bei­spiel füh­ren die nächs­ten Abschnit­te die drei Stu­fen der Pro­gres­si­ons­ana­ly­se vor: Arbeits­si­tua­ti­on, Schreib­be­we­gung, retro­spek­ti­ve Ver­ba­li­sie­rung. Die Daten die­ser drei Ebe­nen ergän­zen sich zum Gesamt­bild von MBs Text­de­sign­stra­te­gien und Wirkungsabsichten.

Die Arbeitssituation erfassen

Vor dem Schrei­ben hält die Pro­gres­si­ons­ana­ly­se mit Inter­view und Beob­ach­tung fest, in wel­cher Situa­ti­on jemand schreibt und auf wel­che Erfah­rung sie oder er dabei baut. Wich­tig sind etwa die Schreib­auf­ga­be, die Berufs­so­zia­li­sa­ti­on oder öko­no­mi­sche und tech­no­lo­gi­sche Ein­flüs­se am Arbeits­platz. All die­se Fak­to­ren sind einer­seits Teil einer rea­len Welt, ande­rer­seits Teil der Vor­stel­lung, die sich der Autor von der Welt macht und die sein Han­deln moti­viert. Für die Fall­stu­die NACHRICHTENBLOCK lau­tet ein Aus­schnitt aus der Situa­ti­ons­ana­ly­se (Bei­spiel 1):

Radio 32 ist ein pri­va­tes Radio für die Regi­on mit Tele­fon­vor­wahl 032 im Schwei­zer Mit­tel­land. Es sen­det täg­lich sie­ben Nach­rich­ten­blö­cke von drei Minu­ten, jeder umfasst sie­ben bis acht Mel­dun­gen. Vier­mal täg­lich folgt ein zehn­mi­nü­ti­ger Maga­zin­teil. Wenn mög­lich, wählt die Redak­ti­on regio­na­le The­men aus; wenn es aber aus der Regi­on nichts Neu­es zu berich­ten gibt, weicht sie aus auf Natio­na­les und Inter­na­tio­na­les. Die Nach­rich­ten wer­den immer stan­dard­sprach­lich gespro­chen, das übri­ge Pro­gramm größ­ten­teils in Dialekt.

MB, *1969, arbei­tet seit 1995 als Nach­rich­ten­re­dak­teur und -spre­cher für Radio 32. 1992, wäh­rend des Stu­di­ums in Geschich­te, Medi­en- und Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, absol­vier­te er ein Prak­ti­kum bei Radio 32 – und blieb dort: Vor Stu­di­en­ab­schluss stieg er ganz in die Pra­xis ein und eig­ne­te sich das jour­na­lis­ti­sche Hand­werk bei der Arbeit an. Eine Sprech­aus­bil­dung habe er aller­dings mit­ge­bracht; seit sei­ner Kind­heit spie­le er im Solo­thur­ner Stadt­thea­ter klei­ne­re Rol­len. »Das Büh­nen­deutsch muss­te ich mir aber wie­der abge­wöh­nen.« MB bezeich­net sich als »Exhi­bi­tio­nis­ten«, er lie­be es, in der Öffent­lich­keit auf­zu­tre­ten: »Ich könn­te nie für eine Zei­tung arbei­ten, ich wür­de die Auf­trit­te zu sehr vermissen«.

In der Fall­stu­die schreibt MB einen Nach­rich­ten­block von sie­ben Kurz­mel­dun­gen mit je vier bis fünf Sät­zen zu The­men von der Bun­des­rats­wahl über »Aus­land« bis Eis­ho­ckey und Wet­ter. Um 5:20 Uhr kommt er ins Büro, 57 Agen­tur­mel­dun­gen war­ten im Fax. MB liest sie quer und beginnt nach einer Vier­tel­stun­de zu schrei­ben. Für das Lesen der Lokal­zei­tung oder Recher­chen im Inter­net »bleibt kei­ne Zeit«. Nach einer wei­te­ren Vier­tel­stun­de ist er fer­tig mit Schrei­ben und berei­tet sich aufs Lesen vor. Um 6:00 Uhr liest er am Sen­der den ers­ten Nachrichtenblock.

Abb.1: Fall NACHRICHTENBLOCK, Progressionsgrafik

Abb.1: Fall NACHRICHTENBLOCK, Progressionsgrafik


Ausgabe Nr. 1, Herbst 2012

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