(1) Fall NACHRICHTENBLOCK , Situationsanalyse

Die Textproduktionshandlungen vermessen

Wäh­rend des Schrei­bens zeich­net die Pro­gres­si­ons­ana­ly­se jeden Arbeits­schritt auf, den jemand am Com­pu­ter voll­zieht. Dazu läuft hin­ter dem Text­pro­gramm ein Auf­zeich­nungs­pro­gramm. Das wis­sen die Schrei­ben­den; anzu­neh­men ist, dass die­ses Wis­sen sie am Anfang stär­ker irri­tiert, mit der Zeit weni­ger. Tech­nisch bleibt der Auf­zeich­nungs­pro­zess unsicht­bar bis zur Auswertung.

Die­se Aus­wer­tung geschieht zum Bei­spiel in S-Nota­ti­on: Über­all dort, wo jemand sei­nen Schreib­fluss unter­bricht, um etwas zu löschen oder ein­zu­fü­gen, setzt die S-Nota­ti­on das Break-Zei­chen | in den Text. Gelösch­te Stel­len, Dele­tio­nen, ste­hen in [ecki­gen Klam­mern]; nach­träg­li­che Ein­fü­gun­gen, Inser­tio­nen, ste­hen in {geschweif­ten Klam­mern}. Inser­tio­nen und Dele­tio­nen bil­den zusam­men die Revi­sio­nen. Eine Revi­si­on ist also ein Schritt im Schreib­pro­zess, bei dem eine sprach­li­che Ein­heit ein­ge­fügt oder gelöscht wird. Die Zah­len unten an den Break-Zei­chen und oben an den Klam­mern zei­gen die Rei­hen­fol­ge der Schrit­te, der Revi­sio­nen, an (Bei­spiel 2):

Raum168{-}168 | 169 fahrt 169 {-} 169 | 170 krei­sen. Glenn wur­de berühmt, als er 172
[am 20. Febru­ar ] 172 173 1962 als ers­ter US-Astro­naut 173 [mit der Raumkapsel
«Mer­cu­ry Fri­end­ship-7‹ di] 173 174 174 {di} 174 175 e Erde umrundete.

(2) Fall NACHRICHTENBLOCK , S-Notation

Erkenn­bar wird in die­sem leicht gefil­ter­ten Aus­schnitt aus der S-Nota­ti­on, dass MB in den Revi­sio­nen 168 und 169 das Wort »Raum­fahrt­krei­sen« zu »Raum­fahrt­krei­sen « auf­bricht, dann in den Revi­sio­nen 172 und 173 »am 20. Febru­ar« und »mit der Raum­kap­sel ›Mer­cu­ry Fri­end­ship-7‹ di« löscht und schließ­lich in Revi­si­on 174 das zu viel gelösch­te »di« von »die Erde« wie­der ein­fügt. So ver­deut­licht die S-Nota­ti­on, Revi­si­on um Revi­si­on, wie ein Text ent­stan­den ist.

Die gro­ßen Bewe­gun­gen der Text­ent­ste­hung dage­gen wer­den leich­ter erkenn­bar in der Pro­gres­si­ons­gra­fik. Jeder Punkt der Pro­gres­si­ons­gra­fik stellt eine Revi­si­on dar. Die x-Ach­se zeigt die Rei­hen­fol­ge der Revi­sio­nen im Schreib­pro­zess, die y-Ach­se zeigt die Rei­hen­fol­ge der Revi­sio­nen im fer­ti­gen Text­pro­dukt. So ist auf einen Blick erkenn­bar, wo jemand beim Schrei­ben hin und her gesprun­gen ist im ent­ste­hen­den Text und wo er line­ar geschrie­ben hat, also von oben nach unten. Die Pro­gres­si­ons­gra­fik von MBs Text­pro­duk­ti­ons­pro­zess zeigt ein drei­pha­si­ges Arbei­ten mit Tur­bu­len­zen am Schluss (Abb. 1):

In einer ers­ten Pha­se (ganz links in der Gra­fik) kopiert MB die Quel­len­tex­te der Nach­rich­ten­agen­tur in sein Schreib­fens­ter; dabei legt er die Abfol­ge fest: Inland, Aus­land, Sport. Zum ers­ten The­ma kopiert er zwei Mel­dun­gen ins Fens­ter. In einer zwei­ten Pha­se (ab Revi­si­on 10) bear­bei­tet er die Rei­he der bereits ein­ko­pier­ten Mel­dun­gen line­ar, von oben nach unten. In einer drit­ten Pha­se (ab 137) über­blickt er den gan­zen Nach­rich­ten­block, ver­deut­licht die Glie­de­rung mit Leer­zei­len, schreibt eine Wet­ter­mel­dung an den Schluss (ab 140) und kopiert eine zusätz­li­che Aus­land­mel­dung ein, die er sogleich kürzt (ab 146).

Ein Verbalprotokoll erstellen

Nach dem Schrei­ben erschließt die Pro­gres­si­ons­ana­ly­se die Reper­toires indi­vi­du­el­ler Schreib­stra­te­gien: Ist der Schreib­pro­zess abge­schlos­sen, kön­nen sich die Autorin­nen und Autoren in Echt­zeit oder im Zeit­raf­fer anschau­en, wie der Text am Bild­schirm ent­stan­den ist. Dabei sagen sie lau­fend, was sie beim Schrei­ben getan haben und  war­um sie es getan haben. Ein Ton­auf­nah­me­ge­rät zeich­net die­se daten­ge­stütz­ten retro­spek­ti­ven Ver­bal­pro­to­kol­le auf. So kom­men­tiert MB zum Bei­spiel die Revi­sio­nen 168–174 (Bei­spiel 3):

Da sind die <Raum­fahrt­krei­sen>, wer­den auch auf­ge­schlüs­selt, und ich erklä­re noch ein­mal wegen 1962- 20. Febru­ar, dass es genau dort ist, nimmt mir wie­der Platz und gibt sehr viel Infor­ma­tio­nen, die es sehr anstren­gend machen zum Hören, des­halb kom­men sie weg, eben­falls, wie die­se Raum­kap­sel heißt. Ist für die Zei­tung sehr gut, aber für uns muss eine Mel­dung ein­fach gemacht sein.

(3) Fall NACHRICHTENBLOCK , Ver­bal­pro­to­koll zu Revi­si­on 53

Bei sol­chen retro­spek­ti­ven Ver­ba­li­sie­run­gen sind Ver­zer­run­gen auf min­des­tens drei Stu­fen zu erwar­ten: Ers­tens erfasst und spei­chert man sei­ne eige­nen Über­le­gun­gen und sein Han­deln nur per­spek­ti­visch und gefil­tert, zwei­tens rekon­stru­iert man sein Den­ken und Han­deln beim Erin­nern wie­der­um sub­jek­tiv, und drit­tens kann man bewusst mit­steu­ern, was man zur Spra­che brin­gen will – etwa um gegen­über den For­schern in einem bestimm­ten Licht zu erschei­nen. Bei der Daten­auf­zeich­nung und -aus­wer­tung sind sol­che Ver­zer­run­gen stets mit zu beden­ken (Pitts 1982; DiPar­do 1994; Levy et al. 1996; Lean­der u. Pri­or 2004).

Auch wich­tig ist, dass kein heu­te greif­ba­res Ver­fah­ren zur Daten­er­he­bung ein direk­tes Fens­ter in den Kopf öff­net. Bild­ge­ben­de Ver­fah­ren zur Hirn­tä­tig­keit etwa wür­den die natür­li­che Text­pro­duk­ti­on erheb­lich stö­ren, eben­so die Metho­de des lau­ten Den­kens, bei der Schrei­ben­de wäh­rend der Tätig­keit kom­men­tie­ren, was sie tun und war­um sie es tun. Bei der retro­spek­ti­ven Ver­ba­li­sie­rung dage­gen tre­ten die For­schen­den erst auf den Plan, wenn der natür­li­che Text­pro­duk­ti­ons­pro­zess abge­schlos­sen ist.

MBs retro­spek­ti­ves Ver­bal­pro­to­koll ist also nicht zu lesen als eine ori­gi­nal­ge­treue Wie­der­ga­be von Über­le­gun­gen, die der Autor wäh­rend des Schreib­pro­zes­ses tat­säch­lich so ange­stellt hat. Viel­mehr bringt MB, ange­regt durch die Beob­ach­tung sei­nes eige­nen Schreib­han­delns, ein­zel­ne Über­le­gun­gen zur Spra­che, die er in ver­gleich­ba­ren Situa­tio­nen anstel­len könn­te: Über­le­gun­gen, die in sei­nem bewuss­ten Wis­sen zur Spra­che, zum Sprach­ge­brauch und beson­ders zur Text­pro­duk­ti­on grün­den. Zu die­sen Über­le­gun­gen zäh­len die Schreibstrategien.


Ausgabe Nr. 1, Herbst 2012

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