Das haben die Überflüssigen, also die Werkbund-Mitglieder, allerdings durchaus nicht getan (Loos wollte das nur so sehen), denn ob Kunst oder nicht, ob das Individuelle oder das Allgemeine die Architektur und das Kunstgewerbe bestimmen sollten, war ja gerade eine der wesentlichsten Fragen, die im Werkbund äußerst kontrovers diskutiert wurden. Loos wollte das so sehen, aber er sah es nicht konsequent, denn er bezieht in seinen Text ja das Silber der Zigarettentasche und die Juwelen ausdrücklich mit ein; edle Materialien, mit denen man Gegenstände des Kunstgewerbes und auch Gebäude durchaus kunstvoll schmücken kann, wenn man anstatt des Silbers und der Juwelen an Carrara-Marmor denkt, an Travertin vielleicht, an Onyx, an prunkvolle Glasscheiben (wie zum Beispiel an der Hamburger Elb-Philharmonie), an seltene Hölzer oder andere erlesene Stoffe – Loos macht davon selbst reichlich Gebrauch. Das ist für ihn kein Ornament im negativen Sinne. »Meine Lehre ist«, sagt er, »dass die Ornamente der Alten von uns heute durch das edle Material ersetzt werden«. Also die Ästhetik eines Bauwerkes nicht durch Kosmetik, durch aufgeklebte Maske (Loos spricht von »Tätowierung«, und die sei ein Verbrechen), sondern durch die richtige, das heißt: dem Wesen eines Gebäudes adäquate Anwendung erlesener Materialien und Formen, und das hat er bei allem, was er tat, aus seiner Sicht konsequent umgesetzt; heute noch zu sehen (oder richtiger gesagt: zu erleben) an und in seinem Wohn- und Geschäftshaus der Herrenausstatter Goldmann&Salatsch am Michaelerplatz in Wien (inzwischen eine Filiale der Raiffeisen-Bank), in seiner American-Bar an der Kärntner Straße dort und in seinem Wohnhaus Müller in Prag; heute noch zu sehen, weil alle drei Bauten öffentlich genutzt werden und zu besichtigen sind, was sich entschieden lohnt.
Das hat er also konsequent getan; und konsequent getan hat er das auch mit seiner dorischen (fast dorischen) Säule für das Verlagshaus der Chicago Tribune, die ganz aus schwarzem geschliffenen und polierten Granit bestehen sollte; denn das Material, das einer so hehren Form wie einer dorischen Säule entspricht, muß dann ja wohl ebenso hehr sein, und das ist (wenn nicht der Marmor) der schwarze Granit, edel und teuer. Das ist für Loos keine Schminke, keine Tätowierung, während zum Beispiel die Merchants National Bank in Grinnell, Ohio, ein Gebäude von Louis Sullivan, dessen Aussagen zur Architektur Loos nicht unerheblich beeindruckt haben (und mit der ihm zugeschriebenen Formel, dass die Form der Funktion folge, ebenso leichtfertig und falsch herumgeschludert wird wie mit Loos’ Ornament und Verbrechen) – während dieses Bankgebäude vor Loos also keine Gnade gefunden hätte, denn das, was (über dem Eingang) so aussieht wie seinerzeit ein Tresorverschluß, ist ja keiner; das ist appliziert, das ist aufgetragene Schminke, das ist Tätowierung.
Und ebenso wie dieses Gebäude lehnt Loos (natürlich, möchte man schon fast sagen) den gesamten Jugendstil ab: van de Velde, Olbrich, Riemerschmid, Behrens, mithin den halben Werkbund, also die, die er die Überflüssigen nennt. Ein Beispiel dazu (zum Jugendstil) wäre das Graue Haus von Olbrich auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, und es ist unschwer nachzuvollziehen, dass Loos eine solch’ überbordende Motivfülle als Maskerade verhöhnt. Er schreibt dazu: »Meine Gebäude und Räume werden noch stehen, wenn die Häuser der Herren van de Velde und Olbrich längst als unbrauchbarer Plunder beseitigt sein werden.« Die Maskerade also, und wieder: wenn Loos auch mit seinen Kollegen nicht gerade zimperlich verfährt, so hat er im Kern seiner Kritik schon recht: Maskerade – das trifft schon. Seine Säule allerdings war für ihn keine Maskerade, im Gegenteil: für das Verlagshaus einer derart bedeutenden Zeitung wie die Chicago Tribune mußte für ihn etwas Einzigartiges, etwas Sensationelles, etwas die Besucher Überwältigendes präsentiert werden, und dieses Einzigartig-Überwältigende sah Loos in der Hinwendung zu unseren Wurzeln, zur griechischen Antike, und darum der Rückgriff auf die dorische Tempelsäule, edel und bedeutungsschwer. Eigenartig bleibt das Projekt für uns heute dennoch, besonders wenn man bedenkt, dass die Säule ja kein Frühwerk, keine Jugendsünde ist, sondern Loos plante sie 1922, am Beginn des Zenits seiner Laufbahn.
Gänzlich unverständlich wird die Säule allerdings, wenn man sieht, was Loos weit früher schuf: 1899, also 23 Jahre vor Chicago, baut er in Wien das Café Museum in ein bestehendes Gebäude hinein, das, wenn man eine gängige Gründerzeit-Raumausstattung als das seinerzeit Normale ansieht, einen Sturm der Entrüstung auslöste (so etwas in der Wiener Innenstadt, im Kräftefeld der Karlskirche von Fischer von Erlach und Theophil von Hansens Musikvereinsgebäude!) und das als »Café Nihilismus« verhöhnt wurde. Auf den ersten Blick ein sofort in seiner Gesamtheit überschaubarer Innenraum (ganz im Gegensatz zu einem Gründerzeit-Raum à la Makart, in dem man gar nicht weiß, wie man um die Möbel herumkommen soll, man sieht (die Inneneinrichtung ist verloren, das Gehäuse selbst – mäßig restauriert – steht noch) – man sieht wenig Dekoration, eigentlich nur die Messingbänder, die den gewölbten Deckenspiegel gliedern (Messingbänder, die die offen geführten elektrischen Leitungen halten), und man sieht, dass Loos fast funktionalistisch-karge Möbel verwendet; mithin ein Raum, der sich krass vom Alteingesessenen abhebt. Und kein Ornament, jedenfalls kein falsch angewendetes.
Wesentlich an dieser Wirkung sind die Möbel, die Biegeholz-Stühle der Firma Thonet, die so modern, so zeitlos waren, dass sie noch heute gültig sind und (nach über 100 Jahren!) in leicht modifizierter Form immer noch hergestellt werden. Das war absolut neu, und das war sehr gewagt für einen öffentlich zugängigen Raum; denn das, was man in Wien (und nicht nur in Wien) gewohnt war, ähnelte der eben angesprochenen Gründerzeit-Ausstattung, und ein paar Schritte weg vom Café Nihilismus stand der übliche Caféhaus-Stuhl: Chippendale-Ersatz; nach heutigem Jargon eher »Krefelder Barock, Typ Barbara« oder so ähnlich. Und wenn man sich so in seinem Umfeld umsieht, dann hat sich bis heute so sehr viel auch nicht geändert.