Loos’ »Café Nihilismus« ist nicht von Hoftapezierer Schulze. Aber was hätte der Hoftapezierer van de Velde (den Loos ja mit diesem Schmähwort überzogen hatte) dazu gesagt? Ich denke, das Café wäre ihm ein bißchen zu kahl erschienen (wohl eher: erheblich zu kahl), aber er hätte es wohl akzeptieren müssen. Denn fast gleichzeitig baut (oder sage ich besser: gestaltet) van de Velde in Berlin einen Friseursalon, von dessen Frisiertisch-Reihung sich eine Achse erhalten hat. Das ist Jugendstil. Das hätte Loos zum Murren gebracht. Aber es ist mehr, und das hätte Loos eigentlich anerkennen müssen: nämlich das Ornament, das einer Funktion genügt, seinen Messingbändern am Deckenspiegel, die die Elektroleitungen tragen, entsprechend – die Messingrohre, die auch hier nicht nur ornamental verwendet sind, sondern auch funktional: Rohre, die Wasserleitungen sind; und auf Wasser ist ein Friseur ja angewiesen, früher mehr noch als heute, als Wasserwelle, Rasieren, Kopfwaschen etc. zum Normalprocedere eines Barbiers dazugehörten. Insofern also richtig angewendetes Ornament, durchaus Loos’ Forderung entsprechend, und so hätte ihm diese Architektur eigentlich zusagen müssen, aber er mochte van de Velde nicht, und Haß macht immer blind.
Und was macht Loos selbst (der doch gerade van de Velde als eine Art architektonischen Anstreicher abqualifiziert hat, nur ein paar Jahre später, genauer im Jahr 1907? Er gestaltet einen kleinen Raum, die American Bar in Wien, mitten im Zentrum an der Kärntner Straße, die deswegen oft als Kärntner Bar gehandelt wird und die heute jeder in Wien als Loos Bar kennt. Ein raffiniertes Stück Architektur; aber van de Velde hätte mit dem Hoftapezierer durchaus zurückschlagen können, denn ehrlich, funktional meinetwegen, frei von Effekt und Ornament (frei von Tapete im übertragenen Sinne, von Tätowierung) ist dieser Raum innen wie auch außen nun gerade nicht. Sie sehen, wenn Sie den Raum betreten (das heißt, Sie sehen das eben nicht), dass dieser Raum, diese Bar in ihrer Grundfläche gerade ’mal 4,40 x 6 m groß ist (also die Größe eines normalen Wohnzimmers hat) und doch eine ganz andere Größe vorgibt; und die erreicht Loos, indem er mit dem Effekt arbeitet, mit dem Effekt des Spiegels und Gegenspiegels und der daraus resultierenden Weite. Er arbeitet also mit fast barocker Raffinesse, denn es sieht ja so aus (so ist es wirklich, nicht nur auf vielleicht zu ausgeklügelten Photographien), als ob die Decke über den Paneelen und Regalen, die den Raum etwa auf halber Höhe teilen, weiter durchliefe, was sie aber nicht tut – hier erfüllen lediglich die Spiegel ihre Aufgabe.
Ist das ornamental gedacht – im Sinne von Loos oder im Sinne von van de Velde? Ist das Hoftapeziererei? Und wie steht es mit den hochwertigen schwarz-weißen Bodenplatten, den edlen Hölzern (feinstes Mahagoni), wie steht es mit dieser Kassettendecke aus Marmor, die an die Staffelungen griechisch- und römisch-antiker Bauten erinnert? Wie steht es mit den honigfarbenen Onyxplatten, die das Außenlicht nur gefiltert hineinlasen, und: wie steht es mit diesem farbscheckigen Äußeren, das seinerzeit (1908), als die Nachbargebäude noch nicht – wie heute – flächendeckend von schreiender Werbebuntheit zugedeckt waren, ja geradezu paradiesvogelhaft gewirkt haben mußte?
Für uns heute ist diese Bar gegenüber dem »Café Nihilismus« eher ein Rückschritt, für Loos aber nicht. Für ihn ist ein Café etwas anderes als eine Bar (ist es ja auch), und die American Bar war keine Bar im heutigen Sinne (und schon gar nicht im Sinne der italienischen Bar), sondern diese Bar diente der Ablenkung der haute volée, besonders der haute volée der Kultur (deswegen das Portrait des Dichters Peter Altenberg – ein enger Freund von Loos – als Dekoration), und zu dieser Geistesklasse gehörte nach Loos’ Auffassung der Luxus, das in diesem Sinne also richtig angewendete Ornament, derart, wie die Säule für die Chicago Tribune eben aus geschliffenem Granit sein mußte und nicht etwa gemauert oder aus Beton. Und zu dieser Gesellschaft gehörte für Loos auch das Wechselspiel von Scheinwelt (die Spiegel) und Wirklichkeit, und das ist hier insofern konsequent umgesetzt. Denn in eine solche Bar ging man (und geht man noch), um aus der harten Lebensrealität kurz in eine Scheinwelt einzutauchen, und das erreicht man ja auch dort, indem man sich einen hinter die Binde gießt (oder zwei oder drei).
Kein Rückschritt dagegen (aus unserer Sicht heute) und ein langanhaltender Skandal war das Wohn- und Geschäftshaus Goldmann & Salatsch am Michaelerplatz in Wien. Gebaut ab 1909. Ein Monstrum, eine Mistkiste, in deren Fensterhöhlen das Grauen wohne, wie es aus Kollegenkreisen presseöffentlich hieß, ein Scheusal im unantastbaren Bezirk der Wiener Innenstadt, ein verächtliches »Haus ohne Augenbrauen«, weil die Fenster ohne bekrönende Verdachung profil- und schmucklos scharfkantig in die Wand eingeschnitten sind. Die Wiener empörten sich, Loos habe die Architektur nackt ausgezogen, und das wird verständlich, wenn man ein normales Geschäftshaus zum Vergleich heranzieht, irgendeines aus derselben Zeit. Das war das, was die Wiener (und auch die Menschen anderswo) gewohnt waren als angezogene Bauten; mithin die überladene Alltagsarchitektur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die aus dem Schmelztiegel historisierender Formen überreich hervorgegangen ist, jene Zuckerguß-Dekoration, die Loos als Vergeudung von Volksvermögen ansah und für die er die Architekten (als Verbrecher) verantwortlich machte – was würde er wohl zu den milliardenschweren Verrenkungen der Europäischen Zentralbanktürme in Frankfurt gesagt haben oder zu den in höhere Sphären angehobenen, ebenso preiswerten Hamburger Elbphilharmonie?
Und was noch skandalträchtiger war als die Architektur selbst, das war, dass im Rücken der Photographen, die das Gebäude auf die Platte bannen wollen, nicht irgendein Haus steht, sondern der Kaisertrakt der Hofburg, dem damaligen Kulminationspunkt österreich-ungarischer Donaumonarchie. Kaisertrakt will sagen, dass Kaiser Franz Josef aus seinen Privatgemächern auf Loos’ Architektur blicken mußte und das als eine schockierende Zumutung empfand. Und wenn der Kaiser das fand, dann war das eben so, da brauchte man nicht mehr weiter zu denken. Loos’ Haus ist schon ein Affront, aber Loos hat diese Architektur nicht wegen des Affront-Effektes gewählt (obwohl es ich zuzutrauen gewesen wäre), sondern er hat sie gewählt, weil sie für ihn der Ausdruck des Gegenwärtigen war, aber dieses Gegenwärtige doch aus der Tradition entwickelt, und die Tradition ist in diesem Fall der Kaisertrakt gegenüber. Denn dieser Trakt (in einer Fischer von Erlach angenäherten Architektur – ein originaler Fischer, an dem man den Kaisertrakt messen kann, steht gleich um die Ecke: die Hofbibliothek) – dieser Trakt ist dreiteilig aufgebaut: der eine Teil (das zurückhaltend gestaltete Sockelgeschoß) mit horizontalen Schichten unten, der zweite Teil (das kaiserliche Wohngeschoß) mit einer Kolossalordnung darüber, und der dritte das Dach, wobei die Dreiteilung eigentlich eine Zweiteilung ist, denn das Dach wird soweit zurückgedrängt, dass es kaum wesentlich in Erscheinung tritt. Und genau diese Teilung übernimmt Loos, wenn auch mit umgekehrter Gewichtung (den umgekehrten Bedeutungsebenen entsprechend): die reich mit edlen Materialien ausstaffierte Geschäftszone unten (Cippolino-Marmor, Granit, Bronze, Messing), die Zone mit den Wohngeschossen (schlicht verputzt) darüber, deutlich getrennt durch ein starkes Gesims, und darüber dann, wiederum getrennt durch ein kräftiges Gesims, das Dach, das wie eine nachträglich aufgesetzte Haube wirkt, und man könnte sich das Haus (wie auch den Kaisertrakt) ganz gut ohne Dach vorstellen. Soweit zur Gestaltung des Äußeren.