Also die Nischen, die Loos für das Außen will und die für das Innen – na ja: etwas verquer sind. Die obere Nische, die Öffnungen in dieser Nische, sind frontal dem Bad und dem WC zugeordnet und seitlich dem Schlafzimmer und dem Treppenhaus; müßte es nicht eigentlich umgekehrt sein, Bad- und WC-Fenster seitlich und die beiden anderen Fenster der doch höherwertigen Räume frontal? Dazu belichtet das kleine Fenster unterhalb der Nische, das schon allein wegen seiner zentralen Lage sehr sprechend ist (fast wie ein Auge) gerade ’mal das Gäste-WC, die beiden langgestreckten Fenster daneben die Küche und als Pendant (auf der anderen Seite des WC-Fensters) die Garderobe. Ist das logisch, ist das gut? Ist das nicht auch, wenigstens von der Fassade aus betrachtet, wie ein falsches Ornament, Ornament ist Verbrechen in diesem Fall? Für Loos nicht, im Gegenteil: alle Grundrisse sind von ihm zur Publikation freigegeben worden, und das hätte er ja wohl nicht getan, wenn er nicht von ihrer Disposition, von ihrer Güte überzeugt gewesen wäre. Oder die Nische über dem Eingang: außen überzeugend, wenn man die Symmetrie will. Aber innen? Die Proportionen des Eßraumes werden doch ganz erheblich verzogen, und das Bad auf der anderen Seite – auch nicht gerade ideal im Sinne der Bauentwurfslehre. Und im Erdgeschoß liegen die Türen in der Nische, liegt die Haustür nicht in der Mittelachse (was die Gesamtaxialität der Fassade doch eigentlich verlangt hätte), sondern die Türen liegen schräg, dazu Garagentor und Haustür gleichwertig und gleichgroß, und das Fenster, das in der Hauptachse liegt, belichtet lediglich den Kohlenkeller. Wie gesagt: Loos tut viel (oder besser gesagt: unterläßt manches) zugunsten der Symmetrie, wobei man hier an der Eingangsnische allerdings nicht verschweigen darf, dass das Haus Teil einer (geplanten) Straßenrandbebauung ist – wozu dann dieses Auf-Achse einerseits (wenn ein entsprechendes Gegenüber fehlt), andererseits aber auch, dass die Haustür und das Garagentor gar nicht so verkehrt (also schräg) liegen; denn man sieht die eine besser im Vorbeigehen (die andere natürlich auch), und man kann aus der Garage leichter mit dem Auto hinein- bzw. hinausfahren – die Eingangsnische ist also auch Staufläche.
Und: gerahmt wird die Fassade durch zwei Regenfallrohre an den Außenkanten, die Loos so wichtig waren, dass er sie im offiziellen Photo (mit einem einmontierten, die Gesamtproportionen verbessernden zusätzlichen Geschoß, das geplant, aber nicht gebaut wurde) nachretuschieren läßt. Sie sind ihm wichtig, weil sie den unteren, grob gemauerten Haustein-Teil mit dem oberen glatt verputzten sozusagen verklammern – zwei völlig verschiedene Einheiten, noch dazu durch ein Gesims deutlich voneinander getrennt, ganz unterschiedlich gewichtet, eine Wichtung, die im Inneren allerdings keinerlei Entsprechung findet; anders als am Wohn- und Geschäftshaus Goldmann & Salatsch sechzehn Jahre zuvor, an dem die Zweiteilung außen ja der inneren Funktion entspricht: hier das Geschäftliche, dort das Wohnen, also logisch – aus unserer Sicht; nicht aber aus der von Loos, der eben anders dachte. Soweit zur Vorderseite.
Von hinten sieht das Haus ganz anders aus, ziemlich wild, fast ein bißchen durcheinander – ich bin mir nicht sicher, ob ich als Student seinerzeit damit durchgekommen wäre. Wie dem auch sei: unübersehbar das »Haus mit den Terrassen« (und mit verschieden-großformatigen Fensterflächen, die auf eine differenzierte Lichtregie im Inneren schließen lassen). Diese Terrassen waren Loos sehr wichtig, und wenn Sie sich sein Hauses Scheu in Wien von 1912 ansehen, die Ansichten besonders, dann wird deutlich, was Loos wollte – krasser kann man es eigentlich nicht mehr formulieren. Diese Terrassen waren für Loos keine Form, Kunst um der Kunst, Architektur um der Architektur willen, sondern Terrassen waren ihm notwendig für ein neues Wohnen, für ein neues Lebensgefühl, und er dachte (sozial eingestellt, wie er war), zunächst an des Kleinbürgertum, an den Arbeiter, der seinerzeit in einer Kärglichkeit zu leben hatte, die wir uns heute kaum noch vorstellen können – Zilles Zeichnungen, sein Wort »Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten, wie mit einer Axt« legen davon Zeugnis ab. Loos schreibt: »Es war immer meine Sehnsucht, ein Terrassenhaus für Arbeiterwohnungen zu bauen. Das Schicksal des Proletarierkindes vom ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in die Schule scheint mir besonders hart. Dem von den Eltern in die Wohnung eingesperrten Kinde sollte die gemeinschaftliche Terrasse, die eine nachbarliche Aufsicht ermöglicht, den Wohnungskerker öffnen.«
Das klingt sehr modern, und die Bedeutung, die das Terrassenhaus (auch im Wohnungsbau) dann gewonnen hat, ist nicht unwesentlich auf Loos zurückzuführen. Die Würde des Menschen war sein Anliegen (auch wenn das zur Zeit durch allzu inflationären Wortgebrauch eher abgedroschen klingt), das Menschliche, und das wollte er nicht nur auf den Villenbau (Haus Scheu oder Haus Tzara) beschränkt wissen, sondern auch (besonders) auf den konzentrierten Wohnungsbau, wie es sein Projekt für 166 Kleinwohnungen in Wien 1923 zeigt oder, etwas höherwertig, sein Block für zwanzig Häuser mit Dachgarten an der Côte d’Azur aus dem selben Jahr: die Terrassen machen nachgerade das Charakteristische dieser Ensembles aus, man kann sich ein angenehmes Wohnen gut vorstellen (und man kann sich vorstellen, dass diese vielen Terrassen Loos’ Raumplan-Idee bzw. dessen Umsetzung weitgehend entgegenkamen).
Das auslösende Moment für diese Terrassen waren für Loos die Siedlungen in Griechenland und im vorderen Orient, diese schöne anonyme Architektur, die sich seit Generationen fast unverändert erhalten hat. Diese Häuser, das Kubische, die außenliegenden Treppen, die Terrassen, die Dichte (die keine Enge ist), die Folge von Außenräumen, diese sprechende Urbanität haben Loos tief beeindruckt, und seine Wohnungsbau-Projekte mit den Terrassen oder auch seine Häuser Müller in Prag, Moller oder Scheu in Wien spiegeln etwas von diesen Eindrücken wieder. Und nun das Haus, das Loos für den Schauspieler Alexander Moissi 1924 auf dem Lido von Venedig bauen wollte – es könnte, wenn man nicht so ganz genau hinsieht, Bestandteil eines griechischen Dorfes sein. Ein Haus, in dem sich, wie ich meine, der ganze Loos fokussiert: der Raumplan, die Gestaltung des Äußeren, die Terrassen, die Ansichten. Loos komponiert die Fassaden, er betont eine Mittelachse, stört sie und macht dann diese Störung fast unkenntlich: die eine Störung (an der Ostseite) durch die an und für sich symmetrische Anordnung der Fenster, der aber zur ganzen Ordnung das Fenster oben links fehlt; eine andere Störung durch das Herausbrechen des Dachgartens aus dem Kubus, das das eigentlich Symmetrische asymmetrisch macht; oder wie Loos mit der außenliegenden Treppe die Härte dieses Kubus stört, ihr entgegenwirkt, eine Störung, mit der er das Haus beim Betreten und Begehen erlebbar macht – wie gesagt: eine Störung neben der anderen, immer aber gerade nur so stark, dass diese Störungen eben nicht störend ins Auge fallen – das ist die Kunst.
Loos hat die Architektur vom falsch angewendeten Ornament befreien wollen – an diesem ist ihm das, wie ich meine, ohne Wenn und Aber gelungen: keine Fuge zuviel, keine Nische, kein Erker, und auch der Raumplan ist in diesem Haus (natürlich!) umgesetzt, aber nicht gar so doktrinär wie in den Häusern Müller in Prag, Moller in Wien oder Tzara in Paris, in denen sich (das ist meine Meinung und etwas respektlos formuliert) – in denen sich vor lauter Raumplan der Bewohner verirren könnte.
Das Haus Moissi ist also makellos, meinetwegen. Aber summa summarum ist es für die Qualität von Architektur nicht so wichtig, ob sie makellos ist oder nicht – was ist schon makellos. Wichtig ist, nochmals Scharoun zitiert, dass die Idee trägt, und daran gemessen bildet Loos’ Werk einen Wendepunkt in der Geschichte der neueren Architektur, wovon er selbst völlig überzeugt war und das auch – sehr selbstbewußt – öffentlich verkündete: »Man weiß«, schreibt er 1929 (also zu der Zeit, als das Haus Müller in Prag entstand), »man weiß, dass das ganze Kunstgetue in der Architektur in allen Ländern keinen Hund vom warmen Ofen lockt, dass der ganze Betrieb durch Bünde (sprich: Werkbünde), durch Hochschulen, Zeitschriften, Ausstellungen etc. keinerlei neue Anregung gegeben hat, sondern dass die gesamte Entwicklung im modernen Gestalten auf zwei Augen ruht. Und das sind die meinen.«
Adolf Loos ein Außenseiter, ein Zukunftsweiser, um das Generalthema des Vortragszyklus zu reflektieren? Ich denke, schon. Vielleicht ist es das: Die Fehler der Großen sind für den Fortschritt der Menschheit bedeutungsvoller als die Tugenden der Kleinen.
Loos ein Moralist? Seinem Pariser Bauherrn Tristan Tzara war ein Kater zugelaufen. Den nannte er Loos. Loos, weil er elegant, nobel, weise und voller Weltverachtung war. Das war’s.