Das Wesentliche an diesem Wohn- und Geschäftshaus Goldmann & Salatsch aber liegt im Inneren, das, was Loos für die moderne Architektur bis auf den heutigen Tag zu einem der einflußreichsten Beweger macht, nämlich das, was er selbst den Raumplan nennt. Betrachten wir den unteren Teil des Hauses, den Geschäftsbereich. Zu diesem Bereich gehören zwei Grundrisse: der der Eingangsebene und der der Ebene darüber (der auf Höhe des Trägers mit dem Firmennamen darauf). Aber: keine zwei Ebenen getrennt übereinander (wie man es gewohnt war), sondern miteinander verflochten zu einer räumlichen Einheit; und die erkennt man schon an der Vielzahl der Treppenläufe. Loos schreibt: »Ich entwerfe keine Grundrisse, Fassaden, Schnitte, ich entwerfe Raum. Eigentlich gibt es bei mir weder Erdgeschoß, Obergeschoß noch Keller. Es gibt nur verbundene Räume und Terrassen. Jeder Raum benötigt eine bestimmte, ihm eigene Höhe: der Eßraum eine andere als die Speisekammer. Darum liegen deren Decken auf verschiedenen Ebenen. Diese Räume muß man miteinander verbinden, dass der Übergang unmerklich und natürlich, aber auch am zweckmäßigsten sei« – wer wollte dem widersprechen. Loos bildet also keine Raum-Additionen, sondern er bildet Raum-Übergänge in drei Dimensionen; das, was eine Generation später Hans Scharoun und Hugo Häring weiterführten, das, was anderen Architekten, Mies van der Rohe zum Beispiel, gar kein Anliegen war – gerade die durchlaufende Decke als alles abschließende Platte bei ihm, gerade die Schichtung, wie es sein Haus Farnsworth, der Barcelona-Pavillon oder das Haus Tugendhat zeigen: Bauten, die sich – na ja – die sich unter einem Deckel entwickeln; vergleichen Sie nur einmal den Tagesraum des Hauses Tugendhat mit dem des Hauses Schmincke in Löbau von Scharoun: die Unterschiede sind offenkundig wie auch die Bezüge bzw. Nicht-Bezüge zur Architektur von Loos.
Loos entwickelt also seinen Raumplan, nach dem die Geschoßgrenzen aufgehoben werden, und das macht das Innere seiner Häuser zu einem stark nachwirkenden Erlebnis. Am Goldmann & Salatsch-Haus geht das so: Sie durchschreiten zunächst den Filter der Säulen und werden durch einen Vorbezirk sozusagen in des Innere hineingezogen; das Innere, das hier im wesentlichen ein Raum auf quadratischer Grundfläche ist mit einem eingestellten Karree von vier Pfeilern – ein Raum, der nicht ohne Härte in das Ganze eingezwängt ist. Von hieraus führt ein gerader Treppenlauf in der Hauptachse auf ein Zwischenpodest, von dem zwei gekurvte Treppen abzweigen, über die man – an Spiegeln, die den Raum illusionär vergrößern, vorbei – auf eine Art Verteilerfläche gelangt, von der zwei 6-stufige Treppenläufe nach unten die Ebene der Stoffregale erschließen, und zwei 9-stufige Läufe nach oben das Galeriegeschoß (den Empfangssalon), und das alles eine räumliche Einheit.
Das klingt kompliziert, und das ist es auch, besonders dann, wenn man einer theoretischen Beschreibung, einem Trockenkurs folgen muß, einem Pianisten vergleichbar, der seine Etüden statt am Flügel auf einer aufgemalten Tastatur übt. Wenn man aber einmal ein solche Haus bewußt erlebt hat, dann erkennt man, von welch’ räumlicher Raffinesse das Ganze ist, dann wird das lebendig, was man rein theoretisch eigentlich gar nicht beschreiben oder, besser gesagt, was man durch die reine Beschreibung nicht lebendig werden lassen kann, das, was die Raumfolge mit den Spiegeleffekten fast zu einem Bühnenbild werden läßt: Hoffmanns Erzählungen, Auftritt des geheimnisvollen Dapertutto, Spiegelarie oder etwas ähnliches. Und bei allem, was Loos’ Häuser, wie gesagt, zu einem stark nachwirkenden Erlebnis macht, haben sie (jedenfalls die, die ich selbst gesehen habe) tatsächlich etwas Theater-, etwas Opernhaftes, besonders sein Haus Müller in Prag: irgendwie, wie ich fand, inszeniert, theoretisch, theoretisch-menschlich meinetwegen, Häuser, in denen ich mir wirklich alltägliches Leben schwer vorstellen kann: spielende Kinder, ein abgegessener Eßtisch, ein Lametta-Weihnachtsbaum – ohne Smoking und Abendkleid letztlich deplaziert. Aber darauf kommt es nicht an, auf das subjektive Empfinden; das Entscheidende ist der neue Weg, den Loos mit diesem Raumkonzept gegangen ist, der neue Weg heraus aus der Erstarrung des Alten (oder sage ich doch richtiger: aus der Erstarrung der Alten) – die Treppe als erlebbarer Teil des Raumes (mit allen daraus resultierenden Konsequenzen), und nicht die Treppe als das herkömmliche Treppenhaus, das nichts weiter ist als die notwendige Verbindung von unten nach oben (oder umgekehrt), eingepfercht in – eben, das Wort sagt es: in ein Treppenhaus, in einen Treppenschacht, räumlich so wichtig wie das Gäste-WC oder die Besenkammer.
Loos’ Wohnhäuser. Zunächst das Haus Steiner in Wien, gebaut um 1910, also zur gleichen Zeit wie das Goldmann & Salatsch-Haus am Michaelerplatz. Die Straßen- und die Gartenseite jeweils direkt von vorn: sehr ungewohnt seinerzeit, wie man sich vorstellen kann; ungewohnt das Karge, ungewohnt das gewölbte Dach, ungewohnt, dass man das Gewölbte nur vorn von der Straße aus sieht, so, als gehörten beide Seiten gar nicht zu ein und demselben Haus. Verbindlicher wird das Ganze, wenn man das Haus so sieht, wie man es sieht (nur von vorn oder nur von hinten sieht man Dinge ja selten), nämlich übereck, und jetzt erkennt man, wie die Straßenseite mit der Gartenseite zusammengeht. Die Seitenansicht offenbart das Eigentliche (also die Zusammengehörigkeit aller Teile, und sie offenbart (sehr zurückhaltend und für Loos eher untypisch, das Innere außen sichtbar zu machen), den Raumplan, denn die Fenster auf verschiedenen Höhen lassen vermuten, dass die Grundrisse in drei Dimensionen relativ frei disponiert sind. Sie sind es, aber das Freie ist hier noch nicht so ausgeprägt, noch nicht so typisch.
Typisch wird das in seinem wohl bekanntesten Haus, dem Haus Müller in Prag, das 1930 fertig wird: der Raumplan also, auch die Feinheiten in der Außenarchitektur, das Spiel mit den Proportionen, der Umgang mit den verschiedenen edlen (und auch weniger edlen) Materialien, und auch die Vorliebe für Terrassen, für Freiräume innerhalb der Baumassen (also nicht des Gartens), ein Aspekt, auf den ich am Schluß noch zu sprechen komme. Die Grundrisse sind nicht gerade leicht zu lesen, allein wegen der vielen Treppenläufe, die schon vom Bild her auf einen Raumplan schließen lassen. Der Baukörper selbst (das Haus ist vor einiger Zeit nach jahrelanger Verschlurung umfassend saniert und in den ursprünglichen Zustand zurückgeholt worden) – der Baukörper selbst ein kantiger Kasten, eher abweisend als einladend, der Symmetrien erkennen läßt, die aber offensichtlich gestört sind: an der Eingangsseite zum Beispiel das zweite der kleinen Fenster oben links, das sozusagen aus der Reihe springt, oder, in den Grundrissen deutlich abzulesen, die vertikale Einkerbung an der linken Ecke derselben Ansicht, die Loos aus Symmetriegründen sehr wichtig war, die allerdings rein ornamental gedacht ist, ohne jede funktionsbedingte Aufgabe – Ornament und Verbrechen, könnte man Loos fragend vorhalten, und er hätte vermutlich wieder eine flammende Entgegnung publiziert.
Der Zugang in das Haus hinein ist zunächst weniger Portal (was man angesichts der Größe des Anwesens schon erwarten könnte) als eher – etwas salopp gesagt – als eher Eingang in die Unterwelt. Eine wenig tiefe, durch ein nur knappes Vordach betonte Nische, die achsensymmetrisch angelegt ist (der Gesamtansicht entsprechend) und in Bezug zur Straße ziemlich abgesackt, so, als sei das einer späteren unsensiblen Anhebung des Straßenniveaus geschuldet. In dieser Nische die Haustür, die aber nicht (was man doch vermuten würde) in der Hauptachse liegt, sondern (Störung der Symmetrie) links daneben, und als Pendant zu dieser Tür (rechts in der Nische) ein erhöhter Blumentrog im Schatten (nicht eben ideal für das Gedeihen von Pflanzen), und dazwischen, zwischen Haustür und Trog, eine Sitzbank aus Marmor mit Blick lediglich auf die Stützmauer, die die ansteigende Straße abfängt – eine etwas eigenwillige Inszenierung. Nach Öffnen der Haustür durchschreitet man einen relativ dunklen, mit seegrünem Opak-Glas gekachelten Korridor, der sich zu einem größeren Raum, dem »Vorzimmer« weitet, das strahlend hell ist, die Wände elfenbeinfarben gestrichen, die Decke kobaltblau, also schon nicht ohne Überraschungseffekt. Von hier führt der Weg weiter in das Hauptgeschoß über einen gewendeten Treppenlauf – man sieht gerade ’mal fünf Stufen, wird aber durch das von oben einfallende Licht angezogen, dennoch: die Wirkung, wie ich es empfand, etwas kleinlich. Man geht also die Treppe hinauf ins Helle, wendet sich einmal und noch einmal und hat dann die Wohnhalle vor sich (ich sage bewußt: Wohnhalle und nicht Wohnzimmer): 60 qm groß, 4 m hoch, ein Raum, der die gesamte Hausbreite einnimmt, der drei ruhige Seiten hat (die nach außen) und eine bewegte (die nach innen), der über zwei Achsen symmetrisch angelegt ist, eine Symmetrie, die durch die vier Eckpfeiler und die sie tragenden Rand-Deckenbalken hervorgehoben und die durch die bewegte Innenwand gestört wird, die Innenwand, die Loos’ Raumplan geradezu plakativ vorführt.