Die Eckpfeiler sind, wie auch die Innenwand, im Material abgesetzt, sollen sich also nicht verstecken. Aber man sieht im Grundriß: die Pfeiler sind hohl, das heißt, sie tragen nichts außer sich selbst (wie auch die Randbalken, die auf sie aufgelegt sind, mit der Statik des Hauses nichts zu tun haben) – sie sind Blende, sie sollen den Raum dreidimensional rahmen – optisch. Geht das mit Loos’ Credo gegen das falsch angewendete Ornament zusammen? Auguste Perret, Zeitgenosse von Loos, hat einmal gesagt: »Eine Stütze nicht zeigen, ist ein Fehler. Eine Stütze vortäuschen, ist ein Verbrechen«. Loos begeht hier dieses Verbrechen, aber mit diesem Verbrechen, mit dieser Inkonsequenz seiner eigenen Lehre gegenüber konnte er offenbar leben.
Die Wohnhalle ist also über längs und über quer symmetrisch, und diese Symmetrie ist deutlich hervorgehoben; aber sie ist ebenso deutlich gestört, denn einmal treten Sie in den Raum übereck ein, womit jede Symmetrie für das Auge verschliffen wird, und zum anderen ist die bewegte Innenwand derart – ja: raumplanerisch aufgelöst, dass man eine Symmetrie nur schwerlich ausmachen kann: man sieht den Zugang in den Raum hinein, man sieht den Treppenlauf in das »Zimmer der Dame« und man sieht den gewichtigen Treppenlauf in das höher gelegene Speisezimmer, das sich zur Wohnhalle öffnet, und außerdem sieht man die Untersicht der Treppe, die weiter nach oben in das Schlafgeschoß führt – kurz: man sieht alles, was man braucht, um das Haus, um Loos’ Raumplan zu verstehen. Dennoch: Treppen über Treppen, fast ein Zuviel, könnte man denken, man sieht ja vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr: man muß, um zum Beispiel vom Speisezimmer in die Bibliothek zu gelangen, erst zwei Stufen hinunter, dann neun Stufen hinauf und dann wieder vier Stufen hinunter, was exaltiert klingen mag, was aber nicht so ist; denn die perspektivischen Eindrücke (die Effekte meinetwegen), die sich abspulen, wenn man sich auf diesen Treppen bewegt, die räumlichen Differenzierungen lassen solche Gedanken gar nicht erst aufkommen – wie gesagt: man muß diesen Raum gesehen, benutzt haben, um seine qualitative Größe zu spüren, das geben selbst noch so gekonnte Photographien nicht her. Man muß ihn gesehen haben nicht leergefegt und ohne Menschen (wie sooft in der Architekturphotographie – das Thema »Architektur, Photographie und das wahre Aussehen des Objekts« wäre ein eigener Vortrag wert), sondern mit den Möbeln der Auftraggeber.
Ich allerdings dachte spontan, als ich das Interieur der Müllers sah, an – horribile dictu – an Entrümpelung. Loos dachte so nicht. Trotz aller nach außen gekehrter Aggressivität, trotz aller (vielleicht durch seine Taubheit gewachsener) Misanthropie war er letztlich in seiner sehr empfindlichen Seele ein Menschenfreund, wollte das aber nicht zeigen. Aber dafür spricht, dass er, der bei der kleinsten Verfehlung der Handwerker in einen seiner berüchtigten Wutanfälle ausbrechen konnte, den Bewohnern ihr gewohntes Ambiente ließ; ganz anders etwa als Frank Lloyd Wright, der von seinen Bauherren rigoros forderte, sich von allem Gewohnten zu trennen (Möbel, Teppiche, Geschirr – eben alles), das von Wright dann mit dem Haus zusammen neu entworfen wurde – entweder ihr akzeptiert das, oder sucht euch einen anderen Architekten; und Mies van der Rohe (etwas verbindlicher) dachte ähnlich. Nicht so Loos. Er störte sich nicht an diesen Sesseln, Teppichen, Bildern, die die Müllers eben hatten, und die Größe seiner Architektur zeigt sich auch darin, dass sie dieses Interieur verkraftet.
Ein weiteres Haus von Loos, das Haus Moller in Wien, gebaut 1928 (heute die Residenz des israelischen Botschafters). Auch ein Kasten, dem Haus Müller vergleichbar, auch symmetrisch gestaltet, fast könnte man sagen: komponiert. Sehr streng die Straßenfassade, wie ein Gesicht. Die Mittelachse deutlich betont durch den Erker, durch die um wenige cm zurückgesetzte Fläche über dem Erker (so eine Art Einkerbung, vielleicht zur Betonung des Balkons, aber rein formal gedacht – Ornament und Verbrechen, möchte man wiederum fragen), durch das Herausschieben der Türen in den Balkonfenstern zur Mitte hin, durch die axial liegende Haustür und die sie begleitenden kleinen Fenster. Und die Grundrisse? Wieder, wie beim Haus Müller: von einer betonten Mittelachse, wie sie die Straßenfassade ja vorgibt, von erkennbarer Symmetrie zunächst keine Spur. Ein Gewirre von Treppen (»Gewirre« nicht negativ gemeint!), das auf den Raumplan schließen läßt. Ich will das jetzt nicht wie am Haus Müller auseinandernehmen (manches wäre Wiederholung), aber es ist wiederum nicht gerade leicht, sich in den Plänen zurechtzufinden – das räumliche Vorstellungsvermögen von Loos muß schon beneidenswert gewesen sein. Und: diesen Raumplan, dieses Besondere, dieses Neue auch außen ablesbar zu machen, was man ja hätte vermuten können, das war Loos gar kein Anliegen. Eine neue Art zu wohnen war sein Anliegen (eben der Raumplan), aber den kehrt er introvertiert ziemlich ausschließlich nach innen; vielleicht um eine Art Überraschungseffekt zu bewirken, nicht gleich alles zu zeigen (sozusagen das Ganze schon auf den ersten Blick), und diesen Effekt hat er ja auch erreicht: am Goldmann & Salatsch-Haus, am Haus Steiner (das mit dem gerundeten Dach), in Prag und eben auch hier.
Noch ein Haus, das Haus für den Lyriker Tristan Tzara in Paris (einem der Mitbegründer des Dadaismus), gebaut 1926; das »Haus mit den beiden Nischen«, wie man es nennen könnte. Ich könnte jetzt so ziemlich alles wiederholen, was ich zu Loos’ Häusern schon gesagt habe, und es würde so in etwa passen. Unübersehbar hat das Haus wieder ein Gesicht, es ist an der Vorderseite (nur an der Vorderseite!) absolut symmetrisch aufgebaut, und Loos tut viel, um diese Symmetrie irgendwie im Verbund mit dem Inneren zu erreichen, was nicht ohne erhebliche Zwänge gelingt, wie man an verschiedenen, mehr als verqueren Raumzuschnitten ablesen kann – die haben ihn offenbar nicht gestört, die waren ihm die Symmetrie wert. Es ist also das »Haus mit den Nischen«, und diese Nischen wollte Loos (wie auch die Symmetrie) allein aus gestalterischen Gründen, denn von innen her gesehen sind auch sie eher hinderlich, wobei ich betonen möchte (was man bei diesem etwas beckmesserischen Addieren von Kritikpunkten leicht übersehen könnte, dass das Eigentliche für Loos der Raumplan ist, und der ist hier, wie man wieder an den vielen Treppen ablesen kann, auf eine Weise umgesetzt, dass man das Wohnen in diesem Haus als ein dauerndes Erlebnis empfinden muß. Und das als Architekt erreicht zu haben ist schon allein sehr viel. »Laß doch«, hat Scharoun einmal sinngemäß gesagt, als ihm Vergleichbares zum Bau der Philharmonie vorgehalten wurde, »laß doch, Hauptsache, die Idee trägt«, und daran ist ja auch viel Wahres. Und außerdem sollte man auch vor sich selbst gelegentlich konstatieren, dass Loos’ Maßstab an Architektur eben ein anderer ist als der eigene, und dass der eigene vielleicht doch nicht das alleinige Non-plus-ultra überzeugender, guter Architektur ist. Und: professionsbedingt (vielleicht auch professionsgeschädigt) fließt mir bei jedem Auftritt, ohne dass ich das eigentlich wollte, Lehre mit ein (Lehre mit eh und nicht mit ee, wie ich hoffe), und so habe ich den Studenten immer geraten (und tue das noch), wenn sie sich solch hehren Figuren am Sternenhimmel der Architektur wie Bramante, Michelangelo, Schinkel, Le Corbusier, Mies van der Rohe oder eben auch Loos nähern, sie verstehen wollen und nicht schon von vornherein, geblendet von der unendlichen Größe und dem strahlenden Glanz Unantastbarer, vor Ehrfurcht niedergeschmettert zu erstarren, sich diese Figuren zunächst als alltägliche Menschen vorzustellen mit ihren Fehlern, die nun einmal das Menschliche ausmachen. Wenn man das tut, nicht mäkelig auf der Suche nach Fehlern, sondern mit Respekt auf der Suche nach dem Vollendeten die Fehler entdecken, dann kann man von der Größe anderer leichter profitieren.