Ich möchte behaupten, dass Musik nach wie vor, auch heute noch, eine Erzählung ist, eine Erzählung, deren Inhalt wir vielleicht manchmal nur emotional, aber wohl nie vollständig rational verstehen können. Wir können sie jedoch irgendwie verstehen, denn diese Erzählung der Musik hat ja auch offenkundig bei den meisten Menschen ihre Wirkung. Wenn Musik aber eine Erzählung ist, dann gibt es in der Musik sicher Analogien zur Sprache. Was würde der Melodie, dem Rhythmus und natürlich dem Klang bei der Sprache entsprechen?
Eine Sprache hat Struktur, kurz eine Grammatik, die aus syntaktischen Regeln und Elementen besteht. In der Sprache sind die Elemente die Wörter; in der Musik wären die Elemente die Töne. Dann kommen die Tonfolgen, die den Phrasen[4] und den fertigen Sätzen der gesprochenen Sprache entsprechen. Dies ist die Melodie. Den Melodien folgen Variationen und Wiederholungen, und es gibt Regeln. So, wie es in der Sprache grammatikalische Regeln gibt, gibt es in der Musik Regeln für Formen, für Sätze, für Kompositionsmuster, für Harmonielehre und dergleichen.[5]
In der Semantik, der sprachlichen Bedeutungslehre, wird gefordert, dass das, was erzählt wird, auch eine Bedeutung haben muss. Der Aufbau und das »Stück«, manchmal auch programmatisch mit den Satztiteln bezeichnet, induziert zum Teil schon eine Bedeutung, man denke nur an die klassischen Sinfonien oder die Sonatenform. Das Stück ist also eine Erzählung und hat einen bestimmten Inhalt, auch wenn wir diesen Gehalt vielleicht sprachlich gar nicht ausdrücken können. Wir können ihn aber doch in gewisser Weise verstehen.
Die Pragmatik schließlich, als die dritte Dimension der semiotischen Struktur einer Erzählung, schaut auf den Adressaten der Erzählung: Wem erzähle ich was, und wie soll die Wirkung dieser Erzählung sein? Soll sie erschüttern, soll sie heilen, soll sie unterhalten, soll sie eine bestimmte Stimmung erzeugen? Das ist das Spannungsfeld von Intention und Wirkung, und dieses Spannungsfeld finden wir sowohl in der Musik, als auch in den Reden und Erzählungen und daher in all dem, was man heute audiotechnisch übermitteln kann.
Zur sprachlich-narrativen Struktur der Musik gesellt sich die zeitliche Dimension. Dazu gehört der Rhythmus. Jede Geschichte hat ein Ende. Erroll Garner hat einmal seinen Jazzpianisten ins Stammbuch geschrieben, was eine gute Improvisation ausmacht: »Wenn Du ein Mädchen ausführst, dann musst Du es abends auch wieder nach Hause bringen.« Das heißt: Eine Improvisation muss eine runde Geschichte sein, die Geschichte muss man auch zu Ende erzählen. Jede Geschichte hat ein Ende, und wenn etwas ein Ende hat, dann kann man es in Teile einteilen. Eine Einteilung der Gesamtzeit in endliche, aber vielleicht gleiche Intervalle – das ist die Basis für den Rhythmus. Dieser Rhythmus gibt die Struktur vor, er regelt, wie ich Prozesse geschehen lassen oder Handlung wiedergeben könnte, z. B. in der Erzählung. Aber das tut auch die Musik durch Phrasierung, durch Melodie, durch Wiederholungen, dann durch Veränderungen und Wiedererkennen – all das erscheint in der musikalischen Erzählung. Auch die Vielfalt der Tempi – man kann ein Stück langsam und oder schneller spielen, man kann hektisch, spannend oder ruhig erzählen. Und schließlich ist die Geschichte zu Ende, das Musikstück ist verklungen, das Ende vom Lied, und das Ganze hat gewisse Nachwirkungen. Am besten ist bekanntlich die Nachwirkung, wenn der Beifall erst zwei oder drei Sekunden nach Ende des Stückes aufbrandet.
Nun kommt der Klang dazu. Für Tonmeister ist dies ganz besonders interessant: In der Sprache ist es die Phonetik, der Klang der Vokale und Konsonanten, die Variationen der Stimme, das Laut oder das Leise. Das Klangspektrum, das eine menschliche Stimme auszeichnet, erlaubt es, sie sofort individuell wiedererkennen zu können. Das ist bei den Instrumenten nicht anders – ein guter Pianist hört es dem Stück an, auf welchem Flügel es gespielt sein könnte. Dann kommen Instrumente hinzu, die ihren eigenen Klang haben, von der Lyra bis hin zu den fast nunmehr unendlichen Möglichkeiten elektronischer und digitaler Musikerzeugung: Früher sagte man »Synthesizer«, heute ist es generell der Computer, der im Keyboard sitzt.
So geht die Geschichte vom Ton über den Akkord hin bis zum Geräusch, die zum Element bei der auch schon nicht mehr ganz so modernen elektronischen Musik geworden ist.
Aber nicht nur dies: Jeder Ton, alles was erzählt wird, was wir hören, jeder Klang, jede Phonetik ist auch abhängig vom Ort und der jeweiligen Situation. Im Fachjargon würde man sagen, es hängt von der Akustik ab, aber Akustik ist immer nur Teil der jeweiligen Situation, die durch Ort und Zeit, durch Anwesenheit, durch Stimmungen und vieles andere mehr bestimmt ist.
So weit diese selbst etwas rhapsodisch anmutenden Anmerkungen zur Musik als Kunstform, die Tonmeister mit ihrer Technik unterstützen und an der sie teilhaben.
- [4] Hier nicht in einem abwertenden Sinne gemeint. In der Grammatik nennt man dies Verbalphrasen, Nominalphrasen etc., also Satzelemente, die einer grammatikalischen Kategorie entsprechen.
- [5] Dies ist auch der Grund, weshalb sich gemeinsame mathematische Strukturen in Sprache und Musik finden lassen. So lassen sich sprachliche grammatikalische Strukturen, sogenannte Transformationsgrammatiken nach Chomsky, mit kompositorischen Aufbaustrukturen in der Musik durchaus miteinander vergleichen. Vgl. Jackendorf et al. (1982); Ballmer (1982).