Die, die den Ton meistern
Die Tonmeister sind diejenigen, die den Ton meistern. Sie entwickeln neue und erweitern bisherige Toninstrumente. Alle Töne und Klänge sind durch die Computerisierung nun potentiell Gegenstand von Berechnungsverfahren, sprich Algorithmen. Sie können sozusagen jeden Ton berechnen, nicht wann er kommt, das sagt der Komponist, aber wie er kommt, wie er klingt und wie er verhallt und was er anstellt. All das können Tonmeister sozusagen im Voraus oder in Echtzeit der Berechnung unterwerfen und haben es auf diese Art und Weise unter Kontrolle.
Technisch könnten Tonmeister sowohl in die Grammatik, in die Zeitstruktur wie in die Phonetik schon bestehender Stücke eingreifen und entsprechend damit auch neue Stücke gestalten. Und sie ermöglichen und unterstützen die Beherrschung der Künste der Komposition und der Interpretation und runden das immer schon technisch vermittelte Hörbild ab durch Akzentuierung und Perfektionierung.
Das ist wunderbar, aber damit sind Tonmeister freilich auch für das Endergebnis mit verantwortlich. Denn sie machen zu Hörendes in den meisten Fällen überhaupt erst zugänglich und damit prägen sie auch die Hörgewohnheiten von Millionen von Menschen.
Die moderne Digitalisierung der Tontechnik hat die Möglichkeit explodieren lassen. Mit diesen Möglichkeiten muss man künstlerisch verantwortungsvoll umgehen. Man merkt es meistens beim Livekonzert, hier trennt sich dann die Spreu von Weizen.
Die Gefahr des Over-Engineering ist immer präsent, weil uns die Möglichkeiten gleichsam davongaloppieren. Der Hörer möchte akustisch nicht verletzt, beleidigt oder erschreckt werden, aber man darf ihn ruhig herausfordern. Der Komponist soll sich ebenfalls wieder finden in dem, was er dann zu hören bekommt, wenn sein Werk das Mischpult und den Lautsprecher verlassen hat. Ich kenne Tonmeister, die nach einer Musikaufnahme einen Kofferradio auf das Mischpult gestellt haben und sich das ganze Werk nochmals über diesen Kofferradio angehört haben – auch darin musste es gut klingen.
Manfred Schoof sagte bei einem Workshop seines Modern Jazz Quartetts im Elektronik-Studio des Südwestfunks 1973, die Maschinerie sei zu intelligent für sich und seine Musiker. Das war zu einer Zeit, als man noch mit dem Synthesizer und dem Vocoder herumspielte.
Jeder Musiker möchte in seiner künstlerischen Freiheit nicht von der nicht mehr beherrschbaren Komplexität technischer Möglichkeiten überwältigt werden. Damit das nicht passiert, braucht es heute nicht nur einen Gestalter, Erzähler oder Komponist, der auch fähig ist, seine Geschichte fertig zu erzählen, sondern es braucht auch jemanden, der die Möglichkeiten des Geräts, des Instrumentariums in die Sprache des Gestalters übersetzen kann, also in die musikalische Sprache, um damit die Geschichte auch akustisch fertig zu erzählen. Und deshalb sitzen die den Ton Meisternde nicht zwischen Birke und Borke, nicht zwischen Kunst und Technik, sondern haben Teil an der Technik und an der Kunst – weil sie gestalten können.
Deshalb meine Bitte an die Tonmeister: »Bewahren Sie weiterhin den Atem der Musik.«
Literatur
Aristoteles: Rhetorik. Reclam, Stuttgart 2019.
Ballmer, Thomas T.: Sprache und Musik. Unpublished Working Paper, Ruhr University Bochum 1982.
Boulez, Pierre: Anhaltspunkte. Belser, Stuttgart, Zürich 1975.
Herbort, Heinz Josef: »In meinem tiefsten Innern bin ich ein Utopist.« Interview mit Pierre Boulez. In: Die Zeit, Nr. 13 vom 24. 3. 1995, S. 72f.
Friedrich, Volker: Zur Rhetorik der Technik. Aufriss eines Forschungsgebietes. In: Friedrich, Volker (Hg.): Technik denken. Philosophische Annäherungen. Franz Steiner, Stuttgart 2018. Ebenfalls in: Sprache für die Form 2021, Nr. 18; https://www.designrhetorik.de/zur-rhetorik-der-technik/.
Homer: Odyssee. Reclam, Stuttgart 1962.
Jackendoff, Ray; Lerdahl, Fred: (1982): A Grammatical Parallel between Music and Language. In: Clynes, Manfred (Hg.) Music, Mind, and Brain: The Neuropsychology of Music. Springer, Boston, MA, 1982. https://doi.org/10.1007/978-1-4684-8917-0_5.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1799). Meiner, Hamburg 1974.
Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik. Hueber, München 1963.
Stockhausen, Karlheinz: Vier Kriterien der Elektronischen Musik. Tonbandtranskription eines ohne schriftliches Konzeptes frei gehaltenen Vortrages am 14. September 1972 im Folkwang-Museum in Essen. In: Herzogenrath, Wulf (Hrsg.): Selbstdarstellung. Künstler über sich. Droste, Düsseldorf 1973, In: http://www.elektropolis.de/ssb_story_stockhausen.htm. Erweitert auch in: Stockhausen, Karlheinz: Texte zur Musik. Band 4 (1970−1977). DuMont, Köln 1978, S. 360—424.
Stallknecht, Michael (2021): Der Computer scheitert an Beethoven: Wie kreativ ist Künstliche Intelligenz wirklich? In: Neue Züricher Zeitung (NZZ) vom 8.10.2021; https://www.nzz.ch/feuilleton/beethovens-zehnte-ld.1649003.