Technik der Musik
Jetzt müssen wir über Technik reden, denn sie unterstützt die Musik nicht nur, sie gestaltet sie auch mit. Der Begriff τέχνη (techne) aus dem Griechischen hat viele Bedeutungen, unter anderem auch die Bedeutung der Kriegslist oder der Kniff, der Trick 17. Wir haben es auch heute noch mit einer Doppelbedeutung von Technik zu tun, einmal die Technik, die z. B. ein Pianist oder eine Tennisspielerin »drauf hat«, und zum anderen die Technik, die wir in Apparaten und den technischen Funktionalitäten sehen. Beide Bedeutungen fließen in der Musik zusammen.
Nehmen wir die Bedeutung der Technik als Gerätschaften: Es geht um das instrumentum, also die Suche nach einem Mittel für einen Zweck. Letzten Endes ist natürlich auch ein Mikrofon und ein Lautsprecher eine Prothese, nämlich etwas, was die Defizite meiner Stimme, was die Lautstärke und damit die Reichweite anbelangt, verstärken, ersetzen und entsprechend verlängern kann. Es ist ein Werkzeug, aber mit diesem Werkzeug kann man Dinge herstellen. Insofern ist das Studio nicht nur der Ort, an dem die Musik entsteht, also produziert wird, sondern das Studio ist auch ein Werkzeug und damit ein völlig neues Musikinstrument. Das Studio ist die Verlängerung des Musikinstruments per se. Gerade die Computerisierung hat hier unendlich viele Möglichkeiten geschaffen.
Wenn wir den Technikbegriff nehmen, der zur Kunst gehört, also gemeint als die Technik, die jemand kann, zum Beispiel die Bassistin oder der Harfenist, dann ist damit die Beherrschung einer Kunst gemeint. Kunst auszuüben bedeutet ein vom Interesse befreites, am Schönen orientiertes Handeln.[6] Es bedeutet, etwas vorzustellen oder vorzuführen. Dies ist der Wortsinn von pro ducere, es wird etwas hervorgebracht, was zuvor hinter der Bühne, beim Bildhauer im Marmorblock oder beim Dichter im Geist war. Die Vorstellung ist das allgemein zugänglich Machen. Früher war der Ort hierfür die Bühne. Heute ist es sinnlos, so klassisch zu reden, denn die Bühne, das sind die Medien, die CDs, die Videoclips, die offene Freiluftbühne, die Streamings etc.
Hier unterstützen und vervollständigen Tonmeister, in dem sie all diese technischen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, diese Kunst der Formung der Töne durch Technik. Sie wirken bei der Herstellung des Werkes mit und sie vervollständigen es auch – diese These ist mir ganz wichtig. Denn dazu gehört auch die Weiterentwicklung von Technik und Gerätschaften. Dies ist wiederum eine Kunst für sich.
Tonmeister erfinden, entdecken, modifizieren, verbessern – und selbstredend ist es so, dass das Mittel, also eine bestimmte technische Möglichkeit, wenn es schon mal da, sich auch neue Zwecke sucht. Das bedeutet, dass technische Möglichkeiten auch über das hinaus genutzt werden können, wofür sie erfunden und gebaut wurden. Es ist also nicht immer alles im Sinne des Erfinders.
Der Computer ist in gewisser Weise das universellste Werkzeug, das man sich im Augenblick vorstellen kann. Was man mit einem Computer machen kann, bestimmt – in gewissen logischen Grenzen – der Programmierer. Damit wird die Kombination von Musikinstrument und Computer ebenfalls universell. Und mit diesen universellen Möglichkeiten entwickeln Tonmeister weitere Instrumente und damit auch die Performance, das heißt die vielfältigen Formen von Vorstellung.
Die Rhetorik der Musik
In diesem allgemeinen Sinn ist ein Musikstück wie eine Rede. Die Redekunst wurde schon in der Antike systematisch entwickelt.[7] Die Rhetorik fragt als erstes, wer denn der Situationsmächtige[8] sei; d. h., an wen sich die Rede und die Erzählung denn richte? Wenn Musik eine Rede ist, dann stellt sich die Frage, wer aufgrund des Gehörten entscheidet. Es ist das Publikum unserer Kunst, die der Tonmeister zusammen mit dem Komponisten, den Instrumentalisten und den Programmieren usw. hörbar und fühlbar macht, weiter transportiert und über Reproduktionstechniken wie Aufzeichnungen verfügbar macht.
Es gibt in der klassischen Rhetoriklehre zur Vorbereitung für die Erzähler oder Redner – und das dürfte auch für die Komponisten gelten – ein paar Arbeitsschritte, die dabei durchlaufen werden sollten.[9] Diese Schritte möchte ich kurz erläutern.
Am Anfang steht die inventio, die Erfindung; es die Idee. Bei der Musik würde man fragen: Wie kommt man auf die Melodie? Das kann der Komponist tun, aber es kann auch der Synthesizer tun, es kann auch ein Computerprogramm tun. Das Erfinden einer Melodie ist nicht mehr ausschließlich dem Menschen vorbehalten, es kann auch durch Technik oder durch Technik unterstützt bewerkstelligt werden.
Der nächste Schritt der Vorbereitung für eine Rede ist in der Rhetorik, und damit in Analogie auch für ein Musikstück, die Gliederung (dispositio). Das bleibt dem Rhapsoden und dem Komponisten überlassen, welche Formen er wählen will: Die Tragödie, die Novelle, die Komödie, oder musikalisch gewendet, die Symphonie, die kleine Sonate oder ein Scherzo.
- [6] Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, §2, B6/7 in Kant (1974), S. 40 ff.
- [7] Auf Aristoteles geht das sogenannte rhetorische Dreieck zurück: Ethos, Pathos und Logos. »Von den durch die Rede geschaffenen Überzeugungsmitteln gibt es drei Arten: Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt, zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen, zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.« Vgl. Aristoteles: Rhetorik. 1. Buch 2,3, 1365a, Reclam in: Aristoteles (2019), S. 12.
- [8] Dies ist in der klassischen Gerichtsrede der Richter, also derjenige, der aufgrund der Argumente in einer Rede eine Entscheidung fällt.
- [9] In Anlehnung an Lausberg (1963).