Essay

Kunst und Technik – und dazwischen der Tonmeister

Über Musikrhetorik und Aufnahme

Von Klaus Kornwachs


Ich bin gebe­ten wor­den, mir ein paar Gedan­ken über die Rol­le des Ton­meis­ters zu machen.[1] Um die Fra­ge im Titel gleich vor­weg zu beant­wor­ten: Der Sitz des Ton­meis­ters ist nicht zwi­schen Bir­ke und Bor­ke, er ist nicht zwi­schen Kunst und Tech­nik ange­sie­delt, son­dern er hat an bei­den Berei­chen Anteil, es han­delt sich um eine Teilhabe.

Wenn wir von Kunst und Tech­nik reden sol­len, so müs­sen wir wohl zuerst bei der Kunst anfan­gen, und ich beschrän­ke mich hier der Kür­ze hal­ber auf die Kunst der Musik. Mit die­ser Kunst haben Ton­meis­ter ja sehr viel zu tun. Um wel­che Kunst also han­delt es sich bei der Musik?

Musik als Sprache

Abbil­dung 1 zeigt einen Rhap­so­den, einen Erzäh­ler, und er hat zur Unter­stüt­zung sei­ner Erzäh­lung eine Lyra dabei, also ein Instru­ment mit ein paar Sei­ten, die er wahr­schein­lich nach der pytha­go­rei­schen Ton­lei­ter gestimmt hat. Der Rhap­so­de ist der Geschich­ten­er­zäh­ler. Zunächst tut er dies münd­lich und erzählt es so, wie es ihm ein­fällt und wie er die Geschich­te im Gedächt­nis hat. Um die Wir­kung etwas zu ver­stär­ken, aber auch um sei­ne Geschich­te bes­ser memo­rie­ren zu kön­nen, benutzt der Rhap­so­de – das beginnt zeit­lich unge­fähr kurz vor Homer – eine rhyth­mi­sier­te Sprache:

Sage mir, Muse, die Taten des viel­ge­wan­der­ten Mannes,
wel­cher soweit geirrt nach der hei­li­gen Tro­ja Zer­stö­rung.
[2]

Abb. 1: Rhap­so­de, Ber­lin Pain­ter; Ter­ra­cot­ta-Ampho­re, ca. 490 v. Ch.; Grie­chen­land. The Metro­po­li­tan Muse­um of Art, New York, Flet­cher Fund, 1956 (56.171.38)
http://www.metmuseum.org/Collections/search-the-collections/254896.

Die­ser Rhyth­mus in der Spra­che bestimmt, ja erzwingt dann das Vers­maß. Die­ser Rhyth­mus spielt auch eine sehr gro­ße Rol­le spä­ter bei den Lie­dern, die die Arbeit beglei­ten – das Repe­ti­ti­ve im Rhyth­mus von Arbeits­schrit­ten fin­det sich sodann im Rhyth­mus, zum Bei­spiel beim Rudern im Boot, bei den Schrit­ten des hän­di­schen Trans­ports oder beim Hämmern.

Es sind also Rhyth­mus und Vers­maß, die zunächst bestim­men, wie der Rhap­so­de sei­ne Vor­stel­lung macht. Um die Wir­kung des Gan­zen noch zu ver­stär­ken, kommt der melos hin­zu, d. h. die Melo­die, gleich­sam die Phra­sie­rung, also das, was den Bogen in der Erzäh­lung aus­macht und dann mit der Ton­hö­he und deren Ver­än­de­run­gen ent­spre­chend unter­stützt. Der tonus rec­tus in den lit­ur­gi­schen Gesän­gen der Welt­re­li­gio­nen hat die­sel­be Funktion.

Der nächs­te Schritt besteht dar­in, dass der Rhap­so­de sich ein Instru­ment zulegt und sich selbst zu sei­nem Gesang beglei­tet. »Iljas« und »Odys­see« sind von Homer in Gesän­ge auf­ge­teilt wor­den. Zum einen glie­der­te dies den Stoff, zum ande­ren erleich­ter­te der Sprach­rhyth­mus (Hexa­me­ter, Pen­ta­me­ter) dem Erzäh­ler das Memo­ri­en des Stoffs. Nun kommt das Instru­ment hin­zu und beglei­tet die Erzäh­lung. Wir beob­ach­ten die Tren­nung von melos und dem, was sprach­lich sich ereig­net: Es ent­steht das Lied. Das Lied war anfäng­lich immer eine Erzäh­lung, aber es muss heu­te nicht immer eine expli­zi­te Erzäh­lung sein. Die Stim­me wird nun selbst zum musi­ka­li­schen Pro­du­zen­ten. Dies ist die Tren­nung von melos und von der Pro­so­die, d. h. der sprach­li­chen Aus­drucks­wei­se, und sie macht die Melo­die eigenständig.

In der nächs­ten Stu­fe der Ent­wick­lung macht sich nun auch das Instru­ment selbst­stän­dig, es reißt den melos an sich, und es beginnt die Pha­se der instru­men­tel­len Musik. Nun begin­nen sich Musik, aber auch die Instru­men­te zu ent­wi­ckeln und damit die dazu­ge­hö­ri­ge Technik.