Doppelausgabe Nr. 19 und 20, Frühjahr 2022: Essay

Die Frage nach der Wahrheit im Kriege

Über die philosophischen Wurzeln aktueller Fragen

Von Klaus Kornwachs


1 Ein­lei­tung

1.1 Wahr­heit als Opfer?

Die Wahr­heit sei das ers­te Opfer im Krieg – so die gän­gi­ge For­mel all derer, die sich in der Vor­pha­se des Aus­bruchs eines Krie­ges für sei­ne Ver­hin­de­rung aus­spre­chen. Die Fra­ge nach der Wahr­heit im Krie­ge zu stel­len, scheint nach die­sem Dik­tum ver­geb­li­che Mühe zu sein, denn sie bleibt wohl schon im Vor­feld der vor­be­rei­ten­den Pro­pa­gan­da auf der Stre­cke. War­um also die­se Fra­ge noch­mals stellen?

Phi­lo­so­phie heißt – nach C. F. von Weiz­sä­cker – wei­ter­fra­gen; hart­nä­ckig wei­ter­fra­gen, möch­te ich hin­zu­fü­gen. Genau die­ses Wei­ter­fra­gen deckt bei Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, gera­de, wenn sie mora­lisch daher­kom­men, über­ra­schen­de Unklar­hei­ten auf und das Klä­ren von Begrif­fen ist ja das Geschäft der Philosophie.

Begin­nen wir mit dem erwähn­ten, mora­lisch gemein­ten Satz, dass die Wahr­heit das ers­te Opfer des Krie­ges sei. Die­se Rede­wei­se bemüht die unfrag­li­che Ver­wen­dung des Begriffs »Opfer«. Neben den Kriegs­op­fern ken­nen wir Unfall- und Kata­stro­phen­op­fer, Opfer einer wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Ent­wick­lung, wir reden von sinn­lo­sen Opfern, und benut­zen den Begriff auch als Verb: es sei­en völ­lig unnö­tig gan­ze Armeen geop­fert worden.

Bei die­ser Ver­wen­dung des Opfer­be­grif­fes fällt sofort eine Ungleich­zei­tig­keit auf, der wir uns eher fra­gend nähern: Gibt es sinn­vol­le Opfer, z. B. aus mili­tä­ri­scher Sicht? Sind Opfer immer unschul­dig? Wer opfert und was wird geop­fert? Wie wird ein Mensch zum Opfer? Wer­den wir also kurz ana­ly­tisch und etymologisch.

»Opfern« ist ein drei­stel­li­ges[1] Verb. Irgend­ei­ne Per­son opfert einer ande­ren Enti­tät, die meist als Sub­jekt ange­se­hen wer­den kann, irgend etwas. Die­ses Etwas, der Gegen­stand des Opferns, das eigent­li­che Opfer, geht in die Ver­fü­gungs­ge­walt des Emp­fän­gers über, zu sei­nem Gebrauch, Genuss oder wie auch immer. Der Opfern­de gibt als Ver­zichts­leis­tung das Opfer aus sei­nem Ver­fü­gungs- oder Schutz­be­reich dahin. Für die­sen Akt wird der Opfern­de sei­ne Grün­de haben – frü­her woll­te man Göt­ter, Tyran­nen und Mäch­ti­ge besänf­ti­gen und für die eige­nen Zwe­cke gnä­dig stim­men. Die­se ver­ein­fach­te Vor­stel­lung des Opfers stimmt in etwa mit dem all­täg­li­chen Begriff über­ein; Dif­fe­ren­zen erge­ben sich im Lau­fe der Begriffs­ge­schich­te frei­lich bei der Funk­ti­on des Opferns und der Moti­va­ti­on, über­haupt zu opfern.[2]

Nun ist das Erstel­len, Kom­pi­lie­ren und Benut­zen von Mythen eine ers­te, wenn­gleich nar­ra­ti­ve Form von ratio­na­li­sie­ren­der Rekon­struk­ti­on natur­ge­bun­de­ner wie sozia­ler Erfah­run­gen – der Mythos ist die not­wen­di­ge Vor­stu­fe des Logos. In der Wis­sen­schaft gibt es nie­man­den, dem man opfern könn­te. Es gibt nur noch schlech­te Meta­phern wie: man habe sein Leben oder sei­ne Frei­zeit oder sein Pri­vat­le­ben für die Wis­sen­schaft geop­fert. Was geop­fert wird, das Opfer, ist also etwas, was ungern, nur zu einem eben ande­ren Preis her­ge­ge­ben wird und es bedeu­tet für den Opfern­den immer einen spür­ba­ren Ver­lust – sonst wäre es eben kein Opfer. Die Gegen­leis­tung bleibt ein offe­nes Ver­spre­chen – trifft sie nicht ein, spricht man von einem ver­geb­li­chen, ja sinn­lo­sen Opfer. Ein gewis­ser Tausch­cha­rak­ter, auch wenn die­ser Tausch ande­ren Regeln fol­gen mag als beim Tausch auf dem Markt, ist in der nicht-mytho­lo­gi­schen Meta­pher doch noch erkennbar.


Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.