Essay
Die Frage nach der Wahrheit im Kriege
Über die philosophischen Wurzeln aktueller Fragen
1 Einleitung
1.1 Wahrheit als Opfer?
Die Wahrheit sei das erste Opfer im Krieg – so die gängige Formel all derer, die sich in der Vorphase des Ausbruchs eines Krieges für seine Verhinderung aussprechen. Die Frage nach der Wahrheit im Kriege zu stellen, scheint nach diesem Diktum vergebliche Mühe zu sein, denn sie bleibt wohl schon im Vorfeld der vorbereitenden Propaganda auf der Strecke. Warum also diese Frage nochmals stellen?
Philosophie heißt – nach C. F. von Weizsäcker – weiterfragen; hartnäckig weiterfragen, möchte ich hinzufügen. Genau dieses Weiterfragen deckt bei Selbstverständlichkeiten, gerade, wenn sie moralisch daherkommen, überraschende Unklarheiten auf und das Klären von Begriffen ist ja das Geschäft der Philosophie.
Beginnen wir mit dem erwähnten, moralisch gemeinten Satz, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sei. Diese Redeweise bemüht die unfragliche Verwendung des Begriffs »Opfer«. Neben den Kriegsopfern kennen wir Unfall- und Katastrophenopfer, Opfer einer wirtschaftlichen oder politischen Entwicklung, wir reden von sinnlosen Opfern, und benutzen den Begriff auch als Verb: es seien völlig unnötig ganze Armeen geopfert worden.
Bei dieser Verwendung des Opferbegriffes fällt sofort eine Ungleichzeitigkeit auf, der wir uns eher fragend nähern: Gibt es sinnvolle Opfer, z. B. aus militärischer Sicht? Sind Opfer immer unschuldig? Wer opfert und was wird geopfert? Wie wird ein Mensch zum Opfer? Werden wir also kurz analytisch und etymologisch.
»Opfern« ist ein dreistelliges[1] Verb. Irgendeine Person opfert einer anderen Entität, die meist als Subjekt angesehen werden kann, irgend etwas. Dieses Etwas, der Gegenstand des Opferns, das eigentliche Opfer, geht in die Verfügungsgewalt des Empfängers über, zu seinem Gebrauch, Genuss oder wie auch immer. Der Opfernde gibt als Verzichtsleistung das Opfer aus seinem Verfügungs- oder Schutzbereich dahin. Für diesen Akt wird der Opfernde seine Gründe haben – früher wollte man Götter, Tyrannen und Mächtige besänftigen und für die eigenen Zwecke gnädig stimmen. Diese vereinfachte Vorstellung des Opfers stimmt in etwa mit dem alltäglichen Begriff überein; Differenzen ergeben sich im Laufe der Begriffsgeschichte freilich bei der Funktion des Opferns und der Motivation, überhaupt zu opfern.[2]
Nun ist das Erstellen, Kompilieren und Benutzen von Mythen eine erste, wenngleich narrative Form von rationalisierender Rekonstruktion naturgebundener wie sozialer Erfahrungen – der Mythos ist die notwendige Vorstufe des Logos. In der Wissenschaft gibt es niemanden, dem man opfern könnte. Es gibt nur noch schlechte Metaphern wie: man habe sein Leben oder seine Freizeit oder sein Privatleben für die Wissenschaft geopfert. Was geopfert wird, das Opfer, ist also etwas, was ungern, nur zu einem eben anderen Preis hergegeben wird und es bedeutet für den Opfernden immer einen spürbaren Verlust – sonst wäre es eben kein Opfer. Die Gegenleistung bleibt ein offenes Versprechen – trifft sie nicht ein, spricht man von einem vergeblichen, ja sinnlosen Opfer. Ein gewisser Tauschcharakter, auch wenn dieser Tausch anderen Regeln folgen mag als beim Tausch auf dem Markt, ist in der nicht-mythologischen Metapher doch noch erkennbar.