2.3 Die Auf­lö­sung des Wahrheitsbegriffs 

Nicht erst in krie­ge­ri­schen Situa­tio­nen scheint sich phä­no­me­no­lo­gisch der Wahr­heits­be­griff auf­zu­lö­sen, weil die Wahr­heits­kri­te­ri­en in das Nach­prü­fen der Vor­han­den­heit oder die Beob­ach­tung der Rea­li­tät aus der Ver­füg­bar­keit über eine Theo­rie durch die Situa­ti­on zu schwin­den begin­nen. Auch in der Phi­lo­so­phie und der Wis­sen­schaft befin­det sich der Wahr­heits­be­griff seit Beginn des 20. Jahr­hun­derts in einer gewis­ser­ma­ßen ana­ly­ti­schen Auflösung.

Die Ergeb­nis­se der ana­ly­ti­schen Wis­sen­schafts­theo­rie, die gera­de durch die Arbei­ten von Karl Pop­per (1993, 2002) sti­mu­liert wor­den sind, hat­ten die Nei­gung ver­stärkt, eine objek­tiv exis­tie­ren­de Rea­li­tät nur als hypo­the­ti­sche anzu­neh­men, der man sich sowie­so nur appro­xi­ma­tiv in der For­schung nähern kön­ne. Dies lös­te den Begriff der abso­lu­ten Wahr­heit auf zuguns­ten einer appro­xi­ma­ti­ven Wahr­heit, die nie voll­endet erreicht wer­den könne.

Die Post­mo­der­ne ver­stärk­te die­sen Trend, aller­dings nicht aus ana­ly­ti­schen Über­le­gun­gen her­aus, son­dern durch eine unver­hält­nis­mä­ßi­ge Ver­län­ge­rung der Kohä­renz­theo­rie, indem sie natur­wis­sen­schaft­li­che Aus­sa­gen, bei­spiels­wei­se ein Lehr­buch der Phy­sik und dich­te­ri­sche Aus­sa­gen, bei­spiels­wei­se die Odys­see des Homer, in glei­cher Wei­se als Tex­te ansah, deren Aus­sa­gen­ge­halt als »gro­ße Erzäh­lung«[23] in glei­cher Wei­se gekenn­zeich­net wer­den konn­ten. Die­se Auf­lö­sung führ­te zu einer hef­ti­gen Gegen­be­we­gung der natur­wis­sen­schaft­li­chen Sei­te.[24]

Ein davon wohl zu unter­schei­den­de Auf­lö­sung des Wahr­heits­be­grif­fes geschah durch die Ver­tre­ter des Kon­struk­ti­vis­mus. Sie gehen davon aus, dass der Mensch in sei­ner kogni­ti­ven Aus­stat­tung sich ledig­lich ein Modell der Welt aus den Sin­nes­da­ten errech­net, des­sen Vali­di­tät bzw. Objek­ti­vi­tät er prin­zi­pi­ell nicht über­prü­fen kann. Damit ist auch ein Beweis für die Exis­tenz einer objek­ti­ven Rea­li­tät für den Kon­struk­ti­vis­mus aus­ge­schlos­sen. Das Modell der Welt, das sich der Beob­ach­ter der Welt aus den Sin­nes­da­ten »errech­net«, führt zu einer Ver­hal­tens­wei­se, die ent­we­der erfolg­reich oder nicht erfolg­reich ist. Über die Wahr­heit als einer Bezie­hung zwi­schen men­ta­len Inhal­ten und einer objek­ti­ven Rea­li­tät kann von daher nicht aus­ge­sagt werden.

Eine Kon­se­quenz die­ses radi­ka­len Kon­struk­ti­vis­mus ist ethi­scher Art: Ange­sichts die­ses Umstan­des kann man nicht von Wahr­heit spre­chen, wer danach immer noch Wahr­heits­for­de­run­gen im Mun­de führt, tut dies in unlau­te­rer Absicht.

Die­ser Gedan­ke ist von Heinz von Foers­ter radi­ka­li­siert wor­den – er stellt sogar eine direk­te Bezie­hung zum Krieg her:

»Der Begriff Wahr­heit bedeu­tet Krieg. (…) Er erzeugt die Lüge, er trennt die Men­schen in jene, die recht haben, und jene die im Unrecht sind. Wahr­heit ist, so habe ich ein­mal gesagt, die Erfin­dung eines Lüg­ners. (…) Wenn der Begriff der Wahr­heit über­haupt nicht mehr vor­kä­me, könn­ten wir ver­mut­lich alle fried­lich mit­ein­an­der leben.«[25]

Dage­gen der Psy­cho­lo­gie Paul Watzlawik:

»Kei­nes­wegs; eine sol­che Behaup­tung wäre Unsinn. Selbst­ver­ständ­lich gibt es Wahr­heits­an­sprü­che in einem reli­giö­sen Sinn, die ganz und gar kei­ne ter­ro­ris­ti­schen und gewalt­tä­ti­gen Kon­se­quen­zen haben. Es geht nur um jene Ideo­lo­gen, die fest­ge­stellt zu haben mei­nen, wie die Mensch­heit orga­ni­siert sein müs­se, um den end­gül­ti­gen Glücks­zu­stand zu errei­chen und die ewi­ge Wahr­heit zu ver­wirk­li­chen.«[26]

2.4 Mit Wahr­heit lügen

Ob man nun die­sem Auf­lö­sungs­ver­such des Wahr­heits­be­grif­fes zustimmt, und je nach­dem, wel­chen der Wahr­heits­be­grif­fe in Tabel­le 2 man prä­fe­riert, so erge­ben sich doch immer Mög­lich­kei­ten, auch mit der Wahr­heit zu lügen. Das Tar­nen und Täu­schen im Krie­ge wird beson­ders hin­ter­lis­tig, wenn man als Lüg­ner gilt – und dies ist im Krieg ja offen­sicht­lich die Regel – und dem Geg­ner, in wel­cher Wei­se auch immer, durch Ver­hal­ten oder durch Spra­che oder durch umge­dreh­te Agen­ten den tat­säch­li­chen Sach­ver­halt kom­mu­ni­ziert. Die Mög­lich­keit des mehr­schich­ti­gen Ver­hal­tens, die bewuss­te Aus­nut­zung des Umstan­des, dass die Ket­te »was er wohl glaubt, was ich glau­be, was er weiß …« ist typisch für eine Art von ant­ago­nis­ti­schen Situa­tio­nen, die man durch ihre mathe­ma­tisch-ana­ly­ti­sche Beschrei­bung zwar nicht auf­lö­sen, aber den­noch sehr genau beschrei­ben kann.

Die The­se wird also sein, dass es Situa­tio­nen gibt, in denen selbst die Wahr­heit zur Lüge wird, weil die Kri­te­ri­en für die Wahr­heit durch eben die­se ant­ago­nis­ti­sche Situa­ti­on nicht mehr gege­ben sind.

Ein Bei­spiel für eine sol­che Situa­ti­on ist die Rol­le des Jour­na­lis­mus in der Kriegs­be­richt­erstat­tung in den Medi­en. Man kann sich fra­gen, war­um hier die Wahr­heit auf der Stre­cke bleibt, ja blei­ben muss.

Im idea­len Fall gibt es zwi­schen zwei Geg­nern A und B und dem Bericht­erstat­ter über den Kon­flikt eine Drei­ecks­be­zie­hung, wobei der Abstand des Bericht­erstat­ters als Meta­pher für Par­tei­lich­keit zwi­schen den bei­den Geg­nern gleich­blei­ben soll­te (Abb. 1).

Abbildung 1: Symmetrische Beziehung zwischen Parteien und Berichterstatter

Abbil­dung 1: Sym­me­tri­sche Bezie­hung zwi­schen Par­tei­en und Berichterstatter


Doppelausgabe Nr. 19 und 20, Frühjahr 2022

Datenschutz-Übersicht
Sprache für die Form * Forum für Design und Rhetorik

Diese Website verwendet Cookies, damit wir dir die bestmögliche Benutzererfahrung bieten können. Cookie-Informationen werden in deinem Browser gespeichert und führen Funktionen aus, wie das Wiedererkennen von dir, wenn du auf unsere Website zurückkehrst, und hilft unserem Team zu verstehen, welche Abschnitte der Website für dich am interessantesten und nützlichsten sind.

Unbedingt notwendige Cookies

Unbedingt notwendige Cookies sollten jederzeit aktiviert sein, damit wir deine Einstellungen für die Cookie-Einstellungen speichern können.