XI. Revo­lu­ti­on durch Wahrnehmen

Tat­säch­lich scheint nicht nur im Bereich des unmit­tel­ba­ren Wahr­neh­mens der sinn­lich zugäng­li­chen Welt, son­dern auch auf einer höhe­ren – geis­ti­gen – Ebe­ne die gebil­de­te Gestalt eine Rol­le zu spie­len, wobei die­se Ver­bin­dung es zwang­los erlaubt, den Über­gang von der Phy­sio­lo­gie bzw. Psy­cho­lo­gie in die Wis­sen­schafts­theo­rie zu voll­zie­hen. Der Hin­weis auf die­se Mög­lich­keit fin­det sich bei Tho­mas Kuhn, der in sei­ner berühmt gewor­de­nen Ana­ly­se über »Die Struk­tur wis­sen­schaft­li­cher Revo­lu­tio­nen« von 1962 den Hin­weis gege­ben hat, daß zumin­dest im Ver­lauf eines Umbruchs wis­sen­schaft­li­ches Den­ken an Bil­der geknüpft ist. Zu Beginn von Kapi­tel X, das die Über­schrift »Revo­lu­tio­nen als Wand­lun­gen des Welt­bil­des« trägt, kann man lesen:

»Wäh­rend der Revo­lu­tio­nen sehen die Wis­sen­schaft­ler neue und ande­re Din­ge, … Para­dig­men­wech­sel ver­an­las­sen die Wis­sen­schaft­ler tat­säch­lich, die Welt ihres For­schungs­be­reichs anders zu betrach­ten. […] Als ele­men­ta­re Pro­to­ty­pen für sol­che Ver­än­de­run­gen der Welt des Wis­sen­schaft­lers erwei­sen sich die ver­trau­ten Dar­stel­lun­gen eines visu­el­len Gestalt­wan­dels gera­de­zu als sug­ges­tiv. Was in der Welt des Wis­sen­schaft­lers vor der Revo­lu­ti­on Enten waren, sind nach­her Kanin­chen. Ein Mensch, der zuerst die Außen­sei­te eines Kas­tens sieht, erblickt spä­ter von unten die Innenseite.«

Die von Tho­mas Kuhn erwäh­nen Bil­der stel­len Bei­spie­le für die bekann­ten Kipp-Figu­ren dar, wobei der als zwei­tes erwähn­te Kas­ten gewöhn­lich als Necker-Wür­fel vor­ge­stellt wird, der als zwei­di­men­sio­na­le Dar­stel­lung eines drei­di­men­sio­na­len Gebil­des die erwähn­te Dop­pel­deu­tig­keit zuläßt. Im ers­ten Fall muß ein Betrach­ter sich ent­schei­den, eine län­ge­re gewun­de­ne Linie ent­we­der als Schna­bel einer Ente oder als Ohren­paar eines Kanin­chens zu interpretieren.

Kuhn meint, daß ein Wis­sen­schaft­ler »zur Zeit einer Revo­lu­ti­on … eine neue Gestalt sehen ler­nen« muß. Der Wis­sen­schafts­his­to­ri­ker führt als ein Bei­spiel den Blick auf den Him­mels­kör­per namens Ura­nus an, der zunächst als Stern und erst nach 1781 durch die Augen von Sir Wil­liam Her­schel als Pla­net gese­hen wur­de, und er führt als wei­te­res Bei­spiel die Ent­de­ckung des Sau­er­stoffs an, die er dem Fran­zo­sen Antoine Lavoi­sier zuschreibt, der – etwa zur sel­ben Zeit wie Her­schel im spä­ten 18. Jahr­hun­dert – durch eine neue Theo­rie der Ver­bren­nung etwas »sehen konn­te«, was sein Kon­kur­rent, der Bri­te John Priestley, »bis ans Ende sei­nes lan­gen Lebens nicht zu sehen ver­moch­te«, daß es näm­lich einen Stoff (ein Gas) gab, der durch eine Ver­bren­nung aus der Atmo­sphä­re ent­fernt wird.

In die­sem letz­ten Bei­spiel taucht der Gedan­ke auf, daß das Sehen eines Men­schen theo­rie­ge­lei­tet ist, wie man heu­te sagen wür­de. Tat­säch­lich wird hier­mit eine all­zu bekann­te Beob­ach­tung aus­ge­drückt, die eine wei­te Ver­brei­tung durch den von Goe­the inspi­rier­ten Wer­be­spruch eines Her­stel­lers von Rei­se­füh­rern bekommt, der für sei­ne Pro­duk­te wirbt, indem er mahnt, »Man sieht nur, was man weiß«.

Tho­mas Kuhn erwähnt die­ses Pro­blem eben­falls, wenn er schreibt: »Beim Blick auf ein Gla­ser-Kam­mer-Pho­to sieht der Stu­die­ren­de ver­wor­re­ne und unter­bro­che­ne Lini­en, der Phy­si­ker aber sieht die Auf­zeich­nung eines bekann­ten sub­nu­klea­ren Vor­gangs. Erst nach einer Anzahl sol­cher Umwand­lun­gen des Seh­bil­des wird der Stu­die­ren­de ein Ein­woh­ner der Welt des Wis­sen­schaft­lers, der sehen kann, was der Wis­sen­schaft­ler sieht.«

Die­ser fast selbst­ver­ständ­li­che Zusam­men­hang wird hier nur erwähnt, weil er auch in eine ganz ande­re Rich­tung gesucht wer­den kann und erreicht wor­den ist. Gemeint ist die Tat­sa­che, daß Bil­der der von Kuhn erwähn­ten Art, die zuerst mit Hil­fe der Nebel­kam­mern (1912) und anschlie­ßend durch Auf­nah­men aus Bla­sen­kam­mern einen Ein­blick in die Teil­chen­welt zulie­ßen, etwa zeit­gleich mit dem Ent­ste­hen der moder­nen – also gegen­stands­lo­sen – Male­rei auf­ge­kom­men sind, was nicht als Zufall bei­sei­te gescho­ben wer­den kann und zum Bei­spiel mit gro­ßem Inter­es­se von Künst­lern des Blau­en Rei­ters – allen vor­an Was­si­lij Kan­din­sky – ver­folgt wor­den ist.

XII. Die Bil­der und die Theorien

Die Rol­le der Bil­der bei der Errich­tung von Theo­rien gehört lei­der nicht zu den bevor­zug­ten The­men, mit denen sich die Theo­re­ti­ker und Phi­lo­so­phen der Wis­sen­schaft betä­ti­gen, obwohl im Rah­men von For­schungs­be­rich­ten oft genug vom neu­en Bild des Atoms oder der Evo­lu­ti­on die Rede ist, das man sich macht bzw. das dem Publi­kum ver­mit­telt wird. Im Nach­den­ken über die mög­li­chen Fort­schrit­te auf dem Wege der Wis­sen­schaft hat die »Logik der For­schung« mit ihrem ver­mu­te­ten Wech­sel­spiel aus Hypo­the­se und Fal­si­fi­zie­rung immer noch klar den Vor­rang vor dem gefühls­be­glei­te­ten Auf­schei­nen der Bil­der. Dabei kann sich von die­ser eher hilf­lo­sen Ansicht lösen, wer zum einen bereit ist, die Geschich­te der Wis­sen­schaft hin­rei­chend zur Kennt­nis zu neh­men, und wer zum zwei­ten für die Idee offen ist, daß der gründ­li­chen Ratio­na­li­tät des Ver­stan­des nicht die­se Ratio­na­li­tät selbst, son­dern etwas ande­res als sie vor­an­ge­gan­gen sein kann und muß – und die­ses ande­re könn­te etwas Bild­haf­tes, etwas sinn­lich Gebil­de­tes und damit ein inne­res Bild gewe­sen sein.

An die­ser Stel­le kommt uns zu Hil­fe, daß einer der ganz Gro­ßen der Phy­sik unse­res Jahr­hun­derts genau in die­sel­be Rich­tung gedacht hat, und zwar der 1945 mit dem Nobel­preis für sein Fach aus­ge­zeich­ne­te Wolf­gang Pau­li, der neben theo­re­tisch-phy­si­ka­li­schen Arbei­ten auch zahl­rei­che per­sön­li­che Brie­fe im Sin­ne eines kri­ti­schen Huma­nis­mus geschrie­ben hat. Die­se ursprüng­lich pri­va­ten Tex­te sind seit weni­gen Jah­ren im Rah­men wun­der­ba­rer und sorg­fäl­tig edier­ter Brief­edi­tio­nen umfas­send und all­ge­mein zugäng­lich, und sie gehö­ren zu den gro­ßen Fund­gru­ben der euro­päi­schen Kul­tur, die Lese­stoff für ein lan­ges Leben bie­ten.[15]