Bevor das mit Wis­sen­schafts­ge­stal­tung bezeich­ne­te Pro­gramm akzep­tiert und in Angriff genom­men wer­den kann, müß­ten Wis­sen­schaft­ler bes­ser über die Vor­ge­hens­wei­se der Kunst und die Ver­bin­dung zu ihr infor­miert sein. An die­ser Stel­le herrscht bis­lang eine auf­fäl­li­ge Asym­me­trie. Wis­sen­schaft­ler nicken näm­lich rasch und ein­ver­nehm­lich, wenn sie hören, daß Fort­schrit­te aus ihrem Bereich Wir­kun­gen in der Kunst nach sich gezo­gen haben. Sie den­ken dabei etwa an die phy­si­ka­li­sche Theo­rie der Far­ben, die sich auf die impres­sio­nis­ti­sche Male­rei aus­wirk­te, oder sie wei­sen auf die Ent­wick­lung von Tuben­far­ben hin, die es den Künst­lern erlaub­te, ihr Ate­lier zu ver­las­sen und mit ihren Lein­wän­de in die Land­schaft zu gehen. Und im Detail kön­nen sie sogar bestau­nen, wel­che dra­ma­ti­schen Spi­ra­len Vin­cent van Gogh an sei­nen »Ster­nen­him­mel« mal­te, nach­dem er erfah­ren hat­te, daß die Astro­no­men sei­ner Zeit in die­ser Form die Gestalt von Gala­xien erkannt hatten.

Wis­sen­schaft­ler reagie­ren aber eher ungläu­big, wenn man ihnen sagt, daß es auch umge­kehrt geht, daß die Kunst die Wis­sen­schaft vor­an­brin­gen kann – durch eine neue Ästhe­tik. Dabei geschieht dies ganz offen­kun­dig, zum Bei­spiel im Rah­men des Vor­gangs, durch den Bil­der etwa auf Com­pu­ter­bild­schir­men in abge­trenn­te Flä­chen aus Far­be (Pixel) zer­legt wer­den. Die­ses Ver­fah­ren ist uns von poin­til­lis­ti­schen Malern wie Seu­rat vor­ge­führt und somit erfun­den wor­den. Und die Tech­nik der Falsch­far­ben, mit deren Hil­fe Wis­sen­schaft­ler unauf­fäl­li­ge Ele­men­te in ihren Daten beto­nen, stammt von den Malern, die dort in Muse­en hän­gen, wo die wil­den Fau­vis­ten aus­ge­stellt werden.

Eini­ge Bei­spie­le für die Hil­fe­stel­lung, die Wis­sen­schaft durch Kunst erfährt, sind kürz­lich in dem bri­ti­schen Wis­sen­schafts­ma­ga­zin Natu­re zusam­men­ge­stellt wor­den, das seit län­ge­rem eine Kolum­ne ein­ge­rich­tet hat, die zwar »Sci­ence in cul­tu­re« heißt, die aber nicht nur dar­stellt, wel­che Spu­ren die Wis­sen­schaft in der Kul­tur hin­ter­las­sen hat, son­dern die auch in die Gegen­rich­tung schaut:[17]
»Künst­ler erfin­den oft neue Struk­tu­ren, die Wis­sen­schaft­ler anschlie­ßend in der Natur fin­den. Viro­lo­gen, die in den 50er Jah­ren ver­sucht haben, die Struk­tur der Pro­te­in­hül­len zu ver­ste­hen, die kugel­för­mi­ge Viren wie den Polio Virus umga­ben, wur­den gelei­te­te durch die geo­dä­ti­schen Struk­tu­ren, die Richard Buck­mins­ter Ful­ler ent­wor­fen hat­te. Sie dien­ten auch als Model­le für zahl­rei­che Koh­len­stoff­mo­le­kü­le, die mit dem pas­sen­den Aus­druck Ful­le­re­ne benannt wur­den und zu denen der per­fek­te geo­dä­ti­sche Dom eines C60-Mole­küls gehört – einem Buckminsterfulleren«.

Mit ande­ren Wor­ten: Die Ent­wür­fe der Kunst kön­nen eine Schu­le des Sehens für die Natur­wis­sen­schaf­ten wer­den, die doch mit immer neu­en Tech­ni­ken ver­su­chen, das Unsicht­ba­re sicht­bar zu machen, ohne dabei zu ver­ste­hen, daß sie das mit tech­ni­schen Hilfs­mit­teln dar­ge­bo­te­ne Mate­ri­al sowohl auf bio­lo­gi­sche vor­ge­ge­be­ne als auch durch kul­tu­rell ein­ge­üb­te Wei­se betrach­ten. Man sieht auch in der Wis­sen­schaft nur, was man weiß. Was für das Erkun­den von äuße­ren Berei­chen gilt, trifft auch für die Rei­sen in inne­re Räu­me zu. Oder mit ande­ren Wor­ten und umfas­sen­der aus­ge­drückt: Wir soll­ten den Gedan­ken ernst neh­men, daß die Kunst eine not­wen­di­ge Bedin­gung zur Her­stel­lung des neu­en Bewußt­seins sein kann, von dem die zukünf­ti­ge Wis­sen­schaft ihre Bil­der – und damit sowohl ihre Ein­sichts- als auch ihre Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit – bezieht.

Doch die Kunst macht der Wis­sen­schaft nicht nur neue For­men zugäng­lich. Sie lie­fert auch tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, wie sich am Bei­spiel der Ana­mo­r­pho­se zei­gen läßt. Mit die­sen Aus­druck meint man einen »Gestalt­wan­del«, und die dazu­ge­hö­ren­de Vor­ge­hens­wei­se lei­tet sich aus der Ein­füh­rung der Per­spek­ti­ve zur Zeit der Renais­sance ab. Es geht dabei kon­kret um die Fra­ge, wie ein raum­er­fül­len­des drei­di­men­sio­na­les Objek­tes auf eine fla­che Ober­flä­che abge­bil­det wer­den kann. Bereits vor rund 500 Jah­ren ent­deck­ten Künst­ler die ent­spre­chen­den Regeln der Trans­for­ma­tio­nen, die in der Natur­wis­sen­schaft schließ­lich zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts ange­wen­det wur­den, und zwar zum Bei­spiel bei D’Arcy Thomp­son, der sie in sei­nem Buch On Growth and Form nut­ze, und bei Juli­an Hux­ley, als er Pro­blems of Rela­tiv Growth in sei­nem gleich­na­mi­gen Text unter­such­te. In bei­den Wer­ken geht es um evo­lu­tio­nä­re und embryo­lo­gi­sche Pro­zes­se, die sich als ana­mo­r­phe Ver­zer­run­gen dar­stel­len las­sen, wobei anzu­mer­ken ist, daß die moder­ne (mole­ku­la­re) Bio­lo­gie bedau­er­li­cher­wei­se zu die­sem The­ma nur wenig zu sagen hat. Der Gestalt­wan­del (Mor­pho­ge­ne­se) der Orga­nis­men bleibt als anschau­li­che Auf­ga­be vor unse­ren Augen stehen.

Wäh­rend man bei Gestalt­bil­dung und Mor­pho­ge­ne­se fast erwar­tet, daß künst­le­ri­sche Vor­ga­ben der Wis­sen­schaft hel­fen, scheint dies eher unwahr­schein­lich, wenn es um die Ver­ding­li­chung von Logik in moder­nen Com­pu­ter Chips geht. Doch wer tie­fer gräbt, fin­det auch hier eine Ver­bin­dung. Die Chips wer­den näm­lich mit Hil­fe von Metho­den her­ge­stellt, die aus dem Gewe­be­film­druck von Sei­de und von Radie­run­gen über­nom­men und ange­paßt wor­den sind. Logi­sche Ope­ra­tio­nen kön­nen – so gese­hen – in elek­tro­ni­schen Appa­ra­ten durch­ge­führt wer­den, weil es bereits die Kunst gab, sie in phy­si­ka­li­sche Mus­ter zu über­tra­gen, und die­se Mus­ter exis­tier­ten wahr­schein­lich vor allem des­halb, weil ihre Desi­gner bes­ser als ratio­na­le Wis­sen­schaft­ler ver­ste­hen, wie man logi­sche Ope­ra­tio­nen in Bil­der verwandelt.

Wenn vom Ver­hält­nis von Wis­sen­schaft und Kunst die Rede ist, kann es nicht lan­ge dau­ern, bis das Stich­wort Renais­sance fällt. In die­ser Epo­che gehör­ten Wis­sen­schaft und Kunst so eng zusam­men, daß sie mit hoher Qua­li­tät von einer Per­son aus­ge­übt wer­den konn­ten. Vor allem in Leo­nar­do da Vin­ci ver­ei­ni­gen sich wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se und poe­ti­sche Intui­ti­on und brin­gen eine Welt­sicht her­vor, die als »mor­pho­lo­gisch« bezeich­net wor­den ist.[18] Ihm gelang es, in Bil­dern die Bewe­gung des Den­kens zu erfas­sen. Die Male­rei lie­fert auf die­se Wei­se nicht nur ein Modell der Wis­sen­schaft, sie stellt auch die Chan­ce für ihre Gestal­tung dar. Wenn Male­rei – wie Leo­nar­do sie betreibt – die dau­ern­de Bewe­gung auf ein Urbild hin ist, dann wird in der ent­stan­de­nen und gestal­te­ten Form auch deren Bil­dung – die Form­wer­dung also – deut­lich. Und damit wird die Bewe­gung des Den­kens sicht­bar, die zur Wis­sen­schaft gehört. Wenn wir ihr fol­gen, kom­men wir zu den Welt- und Men­schen­bil­dern, die wir zur Ori­en­tie­rung brauchen.