VII. Ein gro­ßer Gedanke

Das ästhe­ti­sche Wis­sen, das die Wahr­neh­mung den Men­schen ver­schafft, hat schon Aris­to­te­les als das Wis­sen des Beson­de­ren bezeich­net, und nur die­ses Wis­sen ist es, das die Wirk­lich­keit rele­vant erfaßt. Das All­ge­mei­ne ist unwirk­lich, und es bringt kei­ne mora­li­sche Ver­hal­tens­wei­se her­vor. Es läßt einen kalt. Von dem, was eine aus­schließ­lich mit Hil­fe der theo­re­ti­schen Funk­ti­on betrie­be­nen Wis­sen­schaft kennt, führt tat­säch­lich kein Weg vom Sein zum Sol­len. Bei dem Beson­de­ren sieht dies anders aus, und wenn es zudem gelingt, sei­ne Schön­heit wahr­zu­neh­men, besteht die gro­ße Chan­ce zu wis­sen, was man tun soll. Das wahr­ge­nom­me­ne Sein führt im emp­find­sa­men Men­schen zum Sol­len. Es ist des­halb die Wahr­neh­mung, aus der die Ethik der Wis­sen­schaft sich ent­wi­ckeln kann, denn die sinn­li­che Erfah­rung ist offen­bar in der Lage, das Wer­te­wis­sen zu ver­mit­teln, das zu einer mora­li­schen Hal­tung führt. Die Pra­xis der Wis­sen­schaft kann nur dann das Attri­but »ethisch« ver­die­nen, wenn sie auf­hört, wert­frei sein zu wol­len und erkennt, daß ihre Tätig­keit Wer­te her­vor­bringt und also wert­voll ist.

Der Begriff der »wert­frei­en Wis­sen­schaft« ist bekannt­lich in Fol­ge des phi­lo­so­phi­schen Den­kens ent­stan­den, das als Ratio­na­lis­mus bezeich­net wird. Im Rah­men sei­ner Bemü­hun­gen wur­de behaup­tet, daß die Wis­sen­schaft sich nicht bei der Fra­ge auf­zu­hal­ten habe, ob die Gegen­stän­de ihrer Begier­de und die Ergeb­nis­se ihrer Aneig­nung ethisch wert­wid­rig oder ange­mes­sen sind, ob sie Heil oder Unheil in sich tra­gen, ob sie der Bewah­rung oder der Zer­stö­rung die­nen (kön­nen). Wich­tig sei ein­zig der wis­sen­schaft­lich genaue Umgang mit den Din­gen und der Ver­such, dabei etwas Nütz­li­ches, zum Bei­spiel in tech­ni­scher Hin­sicht, zu bewir­ken. Die meis­ten For­scher haben sol­che Vor­ga­ben zwar schnell und ger­ne auf­ge­grif­fen, um sich frei ihren Gegen­stand aus­wäh­len und an ihm prak­ti­sche Ver­fah­ren wert­frei pro­bie­ren und ent­wi­ckeln zu kön­nen, aber heu­te spü­ren sie, daß dies unzu­rei­chend ist und eine neue Betrach­tung nötig wird.

Sie kann mit Hil­fe der Kunst gelin­gen, wie in einem ande­ren Zusam­men­hang ein­mal von einem ame­ri­ka­ni­schen Autor bemerkt wor­den ist. In den »Notiz­bü­chern« von Ray­mond Chand­ler, dem Erfin­der des legen­dä­ren Phil­ip Mar­lo­we, fin­det sich unter dem Datum vom 19. Febru­ar 1938 ein Ein­trag unter der beson­de­ren Auf­merk­sam­keit ver­lan­gen­den Über­schrift »Gro­ßer Gedan­ke« (»Gre­at Thought«). Da heißt es:

»Es gibt zwei Arten von Wahr­heit: Die Wahr­heit, die den Weg weist, und die Wahr­heit, die das Herz wärmt. Die ers­te Wahr­heit ist die Wis­sen­schaft, und die zwei­te ist die Kunst. Kei­ne ist unab­hän­gig von der ande­ren oder wich­ti­ger als die ande­re. Ohne Kunst wäre die Wis­sen­schaft so nutz­los wie eine fei­ne Pin­zet­te in der Hand eines Klemp­ners. Ohne Wis­sen­schaft wäre die Kunst ein wüs­tes Durch­ein­an­der aus Folk­lo­re und emo­tio­na­ler Schar­la­ta­ne­rie (emo­tio­nal quackery). Die Wahr­heit der Kunst ver­hin­dert, daß die Wis­sen­schaft unmensch­lich wird, und die Wahr­heit der Wis­sen­schaft ver­hin­dert, daß die Kunst sich lächer­lich macht.«[10]

Der Ein­trag wirkt eher iso­liert. Der »gro­ße Gedan­ke« muß Chand­ler plötz­lich ergrif­fen haben. Er kam viel­leicht als Inspi­ra­ti­on zu ihm, und er könn­te eine Inspi­ra­ti­on für die Zukunft sein. Es müß­te gelin­gen, die bei­den Bemü­hun­gen der Men­schen um Wahr­heit zusam­men­zu­brin­gen, um eine neue ästhe­tisch ori­en­tier­te Wis­sen­schaft zu grün­den. Ästhe­tik ohne Wis­sen­schaft bleibt nutz­los, und Wis­sen­schaft ohne Ästhe­tik bleibt wert­los. Wis­sen­schaft mit Ästhe­tik kann wert­voll wer­den. Was zur Wis­sen­schaft gehört und ihr bis­lang fehlt, ist der Blick der Kunst, wenn Kunst als Inter­pre­tin der Natur auf­tritt. Was dem For­scher fehlt, ist die Wahr­neh­mung des Künst­lers, der die Natur stu­diert, um das Erleb­te in neu­er Form darzustellen.

Es muß ver­mehrt zu einem Wech­sel­spiel zwi­schen den Küns­ten und den Wis­sen­schaf­ten kom­men, allein des­halb, weil die Wahr­heit der Wis­sen­schaft längst so unmensch­lich gewor­den ist, wie Ray­mond Chand­ler es befürch­tet hat. Zumin­dest haben die ethi­schen Pro­ble­me des For­schens und die mora­li­sche Frag­wür­dig­keit so stark zuge­nom­men, daß zwi­schen­zeit­lich schon höhe­re Mäch­te auf­ge­for­dert wor­den sind, uns zu ret­ten – etwa bei Mar­tin Heid­eg­ger und bei Hans Jonas. Doch so hoch braucht nie­mand zu grei­fen, und es reicht, vor dem Natur­schö­nen ergrif­fen zu sein. Die­ses Inne­wer­den kön­ne die Men­schen zuletzt mora­lisch wer­den las­sen, wie es Josef Brod­sky ein­mal ver­mu­tet hat. In einem sei­ner Essays von 1996 heißt es:
»Jede neue ästhe­ti­sche Rea­li­tät prä­zi­siert die ethi­sche. Denn die Ästhe­tik ist die Mut­ter der Ethik. Die Begrif­fe ›Schön‹ und ›Nicht-Schön‹ sind zunächst ästhe­ti­sche Begrif­fe, wel­che den Kate­go­rien ›Gut‹ und ›Böse‹ vor­aus­ge­hen. In der Ethik ist gera­de des­halb nicht ›alles erlaubt‹, weil in der Ästhe­tik nicht ›alles erlaubt‹ ist, zum Bei­spiel, weil die Farb­ska­la des Spek­trums begrenzt ist.«

Am Anfang des wahr­neh­men­den und sinn­li­chen Lebens steht nach Brod­sky eine ästhe­ti­sche Wahl, und bei die­ser Wahl rich­ten sich Men­schen nach der Schön­heit, die sie erfas­sen. Es ist nun die­se auf ande­re Men­schen gerich­te­te Wahr­neh­mung, aus der mora­li­sche Vor­stel­lun­gen flie­ßen, und es ist die­se Wahr­neh­mung des Schö­nen, die sinn­li­che Erkennt­nis der Wirk­lich­keit, auf die es sich zu besin­nen gilt. Denn, so schreibt Brod­sky: »Je rei­cher die ästhe­ti­sche Erfah­rung eines Indi­vi­du­ums, des­to unbe­irr­ba­rer sein Geschmack, des­to prä­zi­ser sein mora­li­sches Urteil, des­to grö­ßer sei­ne Unab­hän­gig­keit.«[11]