Die erwähn­te Bestim­mung läßt sich an der grie­chi­schen Wur­zel able­sen, deren Bedeu­tung bei Aris­to­te­les nach­zu­le­sen ist. Zu Beginn sei­ner berühm­ten Schrift »Meta­phy­sik« cha­rak­te­ri­siert der grie­chi­sche Begrün­der aller west­li­chen Wis­sen­schaft die ihm bekann­ten euro­pä­isch-abend­län­di­schen Men­schen durch die Bemer­kung, daß sie von Natur aus nach Wis­sen stre­ben. Als Begrün­dung für sei­ne Fest­stel­lung weist Aris­to­te­les auf die Freu­de hin, die Men­schen an ihren Sin­nes­ein­drü­cken bzw. ihren sinn­li­chen Wahr­neh­mun­gen haben. Der ers­te Satz der »Meta­phy­sik« (mit der Num­mer 980a) lau­tet voll­stän­dig in einer moder­nen Über­set­zung: »Alle Men­schen stre­ben von Natur her nach Wis­sen; dies beweist die Freu­de, die sie an den Sin­nes­wahr­neh­mun­gen haben, denn die­se erfreu­en an sich, auch abge­se­hen von dem Nut­zen, und vor allem ande­ren erfreu­en die Wahr­neh­mun­gen mit­tels der Augen.«[5]

Im Grie­chi­schen steht ais­the­sis für das deut­sche »Sin­nes­wahr­neh­mun­gen«, und aus die­sem Wort hat sich die Bezeich­nung »Ästhe­tik« für ein erkennt­nis­theo­re­ti­sches Kon­zept ent­wi­ckelt, das den Bei­trag der Sin­ne bei der Erkennt­nis mit berück­sich­ti­gen und ihn dem logisch-ratio­nal vor­ge­hen­den und vor­nehm­lich begriff­lich aus­ge­rich­te­ten Erfas­sen der Wirk­lich­keit an die Sei­te bzw. kom­ple­men­tär gegen­über­stel­len woll­te. Das Beson­de­re an der Wahr­neh­mung – auch von Bil­dern – besteht dar­in, daß sie immer nach einer durch­gän­gig gestal­te­ten Form sucht und sich nicht um Details küm­mert. Wahr­neh­mung geht – mit bana­len Wor­ten for­mu­liert – aufs Gan­ze, das sie unmit­tel­bar erfaßt und dem sie Struk­tur gibt – und zwar vor jeder Ein­be­zie­hung eines Begriffs und auch noch bevor die Auf­merk­sam­keit auf benenn­ba­re Ein­zel­hei­ten in der Absicht gelenkt wird, sie anschlie­ßend zu beob­ach­ten und zu quan­ti­fi­zie­ren. So nimmt man zum Bei­spiel an einem Men­schen, dem man gegen­über­tritt, erst einen umfas­sen­den Zug sei­ner Per­sön­lich­keit wahr – zum Bei­spiel sei­ne Neu­gier­de, sei­ne Ver­trau­ens­wür­dig­keit oder sei­ne Ele­ganz –, bevor man ein­zeln quan­ti­fi­zier­ba­re Eigen­schaf­ten – die Far­be und Län­ge der Haa­re etwa oder die Dimen­sio­nen der Hän­de und Fin­ger – beob­ach­tet und regis­triert. Gera­de auch beim Betrach­ten von Bil­dern fängt der erken­nen­de Vor­gang mit einer Wahr­neh­mung der gesam­ten Form an, bevor Details ins Visier und zur Kennt­nis genom­men wer­den.[6]

Dem skiz­zier­ten ursprüng­li­chen Gedan­ken einer für die Natur­wis­sen­schaft rele­van­ten Ästhe­tik, der zum ers­ten Mal im 18. Jahr­hun­dert von dem Phi­lo­so­phen Alex­an­der Gott­lieb Baum­gar­ten in sei­ner zwei­bän­di­gen »Aes­the­ti­ca« vor­ge­schla­gen und aus­ge­ar­bei­tet wor­den ist, liegt die fes­te Über­zeu­gung zugrun­de, daß es vie­le sinn­lich zugäng­li­che Berei­che der Welt gibt – zum Bei­spiel indi­vi­du­el­le Men­schen mit ihrem ein­zig­ar­ti­gen Schick­sal oder aktu­el­le Zufäl­lig­kei­ten –, die sich weder durch eine expe­ri­men­tel­le Mes­sung noch im Rah­men einer mathe­ma­ti­schen Ana­ly­se erfas­sen las­sen – und zwar unte­re ande­rem des­halb, weil sie nur als Gan­zes rele­vant sind. Die mit Hil­fe die­ser zuletzt genann­ten Vor­ge­hens­wei­sen ermög­lich­te »theo­re­ti­sche« Erkennt­nis bleibt also immer unvoll­stän­dig, was kei­nes­falls als Unglück ver­stan­den, wohl aber als unver­meid­li­ches Fak­tum zur Kennt­nis genom­men wer­den sollte.

Die theo­re­ti­sche Erkennt­nis ver­zich­tet auf das Werk­zeug für die Wahr­heit, das Goe­the ein­mal als »exak­te sinn­li­che Phan­ta­sie« bezeich­net hat und von dem er – wohl zu recht – behaup­tet hat, daß sich ein rech­ter wis­sen­schaft­li­cher Ver­stand schwer damit tut. Der mit Hil­fe die­ser Fähig­keit ver­folg­te ratio­na­le Ansatz kann durch eine dem Men­schen von Natur aus gege­be­ne »ästhe­ti­sche« Kom­po­nen­te ergänzt wer­den, die mehr das Indi­vi­du­el­le, das Unver­wech­sel­ba­re, das Kon­tin­gen­te und das Qua­li­ta­ti­ve (das Schö­ne) und weni­ger das All­ge­mei­ne, das Aus­tausch­ba­re, das Gesetz­mä­ßi­ge und das Quan­ti­ta­ti­ve (das Meß­ba­re) im Auge hat. Lei­der hat es unse­re west­li­che Wis­sen­schafts­kul­tur im Ver­lauf ihrer Ent­wick­lung erst ver­lernt und zuletzt auf­ge­ge­ben, die pri­mä­ren Ein­drü­cke der Sin­ne – das Beson­de­re von For­men und Far­ben – intakt zu las­sen. Sie igno­riert damit ihren eige­nen Ursprung und ver­gißt, daß wir euro­päi­schen Men­schen – der zitier­ten Ein­sicht des Aris­to­te­les zufol­ge – pri­mär wahr­neh­men­de und damit ästhe­ti­sche Wesen sind. Daß sich die abend­län­di­sche Kul­tur im Rah­men der moder­nen Wis­sen­schaft – wie es der Bio­lo­ge Adolf Port­mann ein­mal aus­ge­drückt hat – von dem sinn­lich Ver­trau­ten ent­fernt und statt des­sen mehr dar­um bemüht hat, »die­se Qua­li­tä­ten zu über­win­den und durch meß­ba­re Grö­ßen zu erset­zen«, mag his­to­risch ver­ständ­lich und ratio­nal nach­voll­zieh­bar sein, läßt aber zugleich zumin­dest Tei­le der Wis­sen­schaft »lebens­fremd« erschei­nen und den Wunsch nach einer »men­schen­nä­he­ren« Form ihre Pra­xis auf­kom­men.[7]

Die Idee der Meß­bar­keit bzw. Quan­ti­fi­zie­rung aller Qua­li­tä­ten hat einen der­zeit aktu­el­len Höhe­punkt im Kon­zept der Infor­ma­ti­on erreicht, mit des­sen Hil­fe die oben­ge­nann­te Tei­lung des Wis­sens in zwei kom­ple­men­tä­re Berei­che sich ein­präg­sam ver­deut­li­chen läßt. Man braucht sich dazu nur klar­zu­ma­chen, daß es zwei ver­schie­de­ne Arten von Fra­gen gibt. Auf der einen Sei­te ste­hen die Fra­gen, die sich durch Infor­ma­tio­nen beant­wor­ten las­sen – etwa die, wie­viel Autoren in die­sem Buch ver­sam­melt sind und wel­chen Dis­zi­pli­nen sie ange­hö­ren. Auf der ande­ren Sei­te ste­hen die Fra­gen, die sich dadurch aus­zeich­nen, daß ihre Klä­rung gera­de nicht durch irgend­ei­ne Infor­ma­ti­on erfol­gen kann, zum Bei­spiel die, war­um Tho­mas Mann oder ande­re Men­schen rausch­ar­ti­ge Gefüh­le beim Anblick frü­her Men­schen­for­men bekom­men und über­haupt Gefal­len an Bil­dern fin­den und fröh­lich wer­den, wenn sie dar­in ein Stück von sich selbst fin­den können.