Essay

»Unermüdet von diesem Schauen«

Über die Rolle der Bilder in den Naturwissenschaft

Von Ernst Peter Fischer


I. Bil­der in und aus der Wissenschaft

Das Ver­bin­den­de zwi­schen Uni­ver­si­tät und Kunst wird in die­sem Bei­trag aus natur­wis­sen­schaft­li­cher Sicht betrach­tet. Die Uni­ver­si­tät wird dabei als Ort für Wis­sen­schaft und For­schung ver­stan­den, an dem es heut­zu­ta­ge zur selbst­ver­ständ­li­chen Pflicht aller dar­an Betei­lig­ten gehö­ren soll­te, die Öffent­lich­keit über die erziel­ten Ergeb­nis­se und ihre Bedeu­tung zu infor­mie­ren. Die Ver­mitt­lung von wis­sen­schaft­li­chen Ein­sich­ten gelingt oft mit Hil­fe von Bil­dern, und deren Rol­le soll in die­sem Auf­satz beleuch­tet wer­den, wobei sich her­aus­stel­len wird, daß die Bil­der nicht erst bei der Wei­ter­ga­be von wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen, son­dern schon bei ihrer Gewin­nung eine Rol­le spie­len. Da sich Bil­der den Men­schen über die Wahr­neh­mung erschlie­ßen, wird die­se Fähig­keit aus­führ­lich zur Spra­che kommen.

Die beson­de­re Bedeu­tung der Bil­der zeigt allein die immer wie­der gestell­te Fra­ge nach dem Welt­bild der Wis­sen­schaft bzw. nach dem Men­schen­bild der moder­nen Gene­tik. Es wür­de sich loh­nen, der The­se nach­zu­ge­hen, daß die ethi­schen Schwie­rig­kei­ten der moder­nen For­schung dadurch mög­lich wer­den,  weil weder die Phy­sik ein Welt­bild – etwa im Sin­ne der New­ton­schen Mecha­nik – noch die Bio­lo­gie ein Men­schen­bild erken­nen läßt. Die am nach­hal­tigs­ten von Imma­nu­el Kant gestell­te Fra­ge »Was ist der Mensch?« kann weder durch Anga­be von DNA-Sequen­zen noch durch Hin­wei­se auf gene­ti­sche Pro­gram­me beant­wor­tet wer­den. Der Ent­wurf eines adäqua­ten Men­schen­bil­des, das über Maschi­nen­mo­del­le hin­aus­geht, bleibt eine dring­li­che Auf­ga­be, die viel­leicht mit Hil­fe der Kunst gelöst wer­den kann. Wir kön­nen uns ihr nur lang­sam nähern.

II. Beim Betrach­ten von Bildern

Wel­chen direk­ten Ein­fluss Bil­der bzw. Gebil­de der Wis­sen­schaft auf einen Betrach­ter und sein Ver­ste­hen haben kön­nen, zeigt das Bei­spiel von Tho­mas Mann, der am 4. Okto­ber 1951 nach einem Besuch des Muse­um of Natu­ral Histo­ry in Chi­ca­go fol­gen­de Bemer­kung in sein Tage­buch ein­trägt: »Uner­mü­det von die­sem Schau­en. Kei­ne Kunst­ga­le­rie könn­te mich so inter­es­sie­ren.«[1] Tho­mas Mann bewun­dert in den bio­lo­gi­schen Samm­lun­gen des Muse­ums fas­zi­nie­ren­de Quer­schnit­te von »sehr frü­hen Muscheln in feins­ter Aus­ar­bei­tung des Gehäu­ses«, er schaut auf »wun­der­schö­ne zoo­lo­gi­sche Model­le aller Art«, und er betrach­tet die ein­drucks­vol­len »Ske­let­te der Rep­til-Mons­tren und gigan­ti­schen Tier­mas­sen«, die frü­her die Erde beherrsch­ten. Dies ergreift ihn unge­mein, und im unge­stör­ten Gegen­über mit die­sen Figu­ren und den vie­len dazu­ge­hö­ri­gen Bil­dern, die dem Betrach­ter die Ent­wick­lung des Lebens und die Evo­lu­ti­on des Men­schen vor Augen füh­ren, wird Tho­mas Mann immer tie­fer berührt. Er emp­fin­det ein unge­heu­res Ver­gnü­gen. Ihn über­kommt »etwas wie bio­lo­gi­scher Rausch«, und mit über­ra­schen­der Deut­lich­keit erfasst ihn das »Gefühl, daß dies alles mei­nem Schrei­ben und Lie­ben und Lei­den, mei­ner Huma­ni­tät zum Grun­de liegt«. Tho­mas Mann ist außer­or­dent­lich »bewegt von all­dem«, und er kehrt am Mor­gen des nächs­ten Tages in das Muse­um zurück, um sich vie­le wei­te­re Bil­der »früh­mensch­li­chen, zum Teil noch kaum mensch­li­chen Lebens« vor Augen zu führen.

Es ist sicher vor allem das Bio­lo­gi­sche, das den Betrach­ter im Muse­um berauscht sein läßt und ihm Erkennt­nis­se nicht durch Ratio­na­li­tät, son­dern durch sinn­li­che Wahr­neh­mung und Gefüh­le ermög­licht, doch benö­tigt Tho­mas Mann dazu die musea­len Model­le und beson­de­ren Bil­der, die ihn anre­gen und anrüh­ren, und es lohnt sich, den genau­en Grün­den für deren weit­rei­chen­den Wir­kun­gen nach­zu­spü­ren, die uns allen mög­lich und ver­traut sind.

III. Das erwei­ter­te Sehen

Men­schen sind visu­ell begab­te Lebe­we­sen, die sich durch – wört­lich zu ver­ste­hen­de – Augen­bli­cke ori­en­tie­ren. Aus die­sem Grun­de ist es ver­ständ­lich, daß immer schon Bil­der und Illus­tra­tio­nen eine Rol­le in der Wis­sen­schaft gespielt haben. Wer will, könn­te sogar einen Grund­zug der tech­ni­schen Ent­wick­lung in unse­rer Kul­tur dadurch cha­rak­te­ri­sie­ren, daß er auf die zuneh­men­den Bemü­hun­gen ver­weist, das Unsicht­ba­re sicht­bar zu machen. Die­se Bemü­hun­gen begin­nen pünkt­lich im 17. Jahr­hun­dert, also genau in der Epo­che unse­rer Geschich­te, in der die moder­ne west­li­che Wis­sen­schaft ins­ge­samt ent­steht, und im Grund drü­cken bei­de Ent­wick­lun­gen ein- und den­sel­ben Cha­rak­ter­zug unse­rer Kul­tur aus, näm­lich den, sehend wis­sen zu wol­len. Mit dem wis­sen­schaft­li­chen Men­schen wird auch das tech­ni­sche Bild unvermeidlich.

Die Bemü­hun­gen um das erwei­ter­te Sehen sind ein Wesens­zug des euro­päi­schen Wis­sen­wol­lens, in des­sen Rah­men Men­schen ver­su­chen, sich mit dem Mikro­skop die klei­nen und mit dem Fern­rohr die gro­ßen Dimen­sio­nen vor Augen zu füh­ren. Erst schlägt ein Deut­scher – Johan­nes Kep­ler – einen Weg vor, um ein zusam­men­ge­setz­tes Mikro­skop zu bau­en, danach benutzt ein Eng­län­der – Robert Hoo­ke – ein ent­spre­chen­des Gerät, um »Zel­len« in Dünn­schnit­ten von Fla­schen­kork zu fin­den und zu benen­nen, und schließ­lich ent­deckt ein Hol­län­der – Anto­nie van Lee­u­wen­hoek – beim ver­grö­ßer­ten Sehen die win­zi­gen (eben »mikro­sko­pi­schen«) For­men des Lebens, die wir Pro­to­zoen und Bak­te­ri­en nennen.