X. Das Bild im Kopf

Die eben gege­be­ne Dar­stel­lung des Malens kann selt­sa­mer­wei­se sehr direkt auf die natür­li­chen Vor­gän­ge über­tra­gen wer­den, die sich in unse­rem Kopf abspie­len, wenn wir den phy­si­ka­li­schen Reiz Licht in das phy­sio­lo­gi­sche Erleb­nis Sehen umwan­deln. Dazu muß natür­lich erst die Ener­gie der Quan­ten (Pho­to­nen) in bio­che­mi­sche Signa­le (akti­vier­tes Rhod­op­sin und sekun­dä­re Boten­stof­fe) ver­wan­delt wer­den, bevor sie danach mit Hil­fe der Regu­lie­rung von Dun­kel­strö­men Akti­ons­po­ten­tia­le in Gang zu set­zen, die ihrer­seits den Weg in das zen­tra­le Ner­ven­sys­tem fin­den und dort schließ­lich in der pri­mä­ren Seh­rin­de ein­tref­fen. An die­ser Stel­le befin­det sich wahr­schein­lich nur ein Zwi­schen­ziel der Licht­ver­ar­bei­tung, und die im Auge emp­fan­ge­ne visu­el­le Infor­ma­ti­on muß noch sehr viel wei­ter gelei­tet wer­den, bevor sie letzt­lich auf höhe­ren Ebe­nen bzw. in tie­fer gele­ge­nen Schich­ten des Gehirns ankommt und dort ver­wen­det und in ein bewuß­tes Bild ver­wan­delt wird. Doch die For­schung kennt sich auf die­sen frü­hen neu­ro­phy­sio­lo­gi­schen Stu­fen des Sehens am bes­ten aus, und sie hat hier – vor allem dank der Ideen und Expe­ri­men­te von Ste­phen Kuff­ler, Tors­ten Hub­el und David Wie­sel und ihren Kol­le­gen – her­aus­ge­fun­den, wie Gehir­ne dabei begin­nen, das Bild her­zu­stel­len, das sich einem Betrach­ter prä­sen­tiert, der eine Sze­ne vor Augen hat.[13] Das Beson­de­re der wis­sen­schaft­li­chen Befun­de besteht nun dar­in, daß die­se Tätig­keit des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems nicht nur ganz ein­fach for­mu­liert wer­den kann, son­dern unmit­tel­bar an den Bereich des Kunst­schaf­fens anschließt, den wir gera­de ver­las­sen haben:

In unse­rem Kopf wird die sich uns dar­bie­ten­de Sze­ne bzw. das von unse­ren Augen beob­ach­te­te Gesche­hen, von dem wir ein Licht­si­gnal emp­fan­gen, in all die geo­me­tri­schen und anschau­li­chen Ein­zel­hei­ten zer­legt, auf die etwa ein Zeich­ner zurück­grei­fen wür­de, der eine Skiz­ze anfer­ti­gen oder gar ein Bild zeich­nen bzw. malen möch­te. Das Gehirn trennt das sinn­lich Emp­fan­ge­ne in Far­be, Form und Bewe­gung auf, es fächert die Form wei­ter in Punk­te, Lini­en, Kur­ven, Rin­ge, Krei­se, Käs­ten und ähn­li­ches auf, wobei im Detail sogar Ori­en­tie­run­gen und Stär­ke von Bal­ken unter­schie­den wer­den. In der pri­mä­ren Seh­rin­de sieht es so aus wie im Ate­lier eines Künst­lers, auf des­sen Arbeits­ti­schen zwi­schen Farb­töp­fen und Linea­len alle mög­li­chen Pin­sel, Stif­te und Krei­den her­um­lie­gen. Mit ande­ren Wor­ten: Was Kuff­ler, Hub­el, Wie­sel und vie­le ande­re her­aus­ge­fun­den haben und was die Lehr­bü­cher zum Bei­spiel in visu­el­len Cor­tex unter den Stich­wor­ten »rezep­ti­ves Feld« und »hyper­kom­ple­xe Zel­le« vor­stel­len, zeigt, wenn man sich kurz aus­drü­cken will, daß das Gehirn Bil­der malt, wenn es die Welt anschaut und sieht. Unser Kopf malt die Bil­der, die wir sehen. Von Pho­to­gra­phien und »pic­tures« ist da nichts zu sehen. Unse­re Wahr­neh­mung der Welt beginnt mit der Her­stel­lung eines »images«. Die Wirk­lich­keit vor Augen wird zu einem Gemäl­de im Kopf.

Das heißt, das Malen selbst haben die Neu­ro­phy­sio­lo­gen natür­lich nicht beob­ach­ten kön­nen. Sie haben aber ent­deckt, daß der Seh­ap­pa­rat die visu­el­le Sze­ne in Punk­te, Win­kel und ande­re ele­men­ta­re Ein­hei­ten zer­legt und dabei so vor­geht, als ob er die hand­werk­li­chen Vor­schrif­ten eines gründ­li­chen Mal­un­ter­richts befolgt. Die­ses Aus­ein­an­der­neh­men und Sor­tie­ren wird einem wahr­neh­men­den Zuschau­er nie­mals bewußt. Ihm geht es wie einem Besu­cher im Muse­um, der nur das fer­ti­ge Bild zu Gesicht bekommt, und dem sieht man den Pro­zeß sei­ner Ent­ste­hung nicht mehr an. Wie ein Kunst­werk durch sei­ne Wir­kung auf den Betrach­ter gerecht­fer­tigt wird bzw. sei­nen Wert gewinnt, muß sich auch das in unse­rer Innen­welt aus ein­zel­nen Ele­men­ten erschaf­fe­ne Bild durch sei­ne Wir­kung für den Betrof­fe­nen recht­fer­ti­gen. Das Gehirn hat dabei zunächst einen enge­ren Rah­men als ein Maler, denn die Auf­ga­be des Organs unter unse­rer Schä­del­de­cke besteht bekannt­lich im bio­lo­gi­schen Ver­ständ­nis zunächst dar­in, die außen sicht­ba­re Welt so zu rekon­stru­ie­ren, daß man in ihr über­le­ben kann. Doch bie­ten die male­ri­schen Vor­be­rei­tun­gen die von unse­rer Wahr­neh­mung reich­lich genutz­te Mög­lich­keit, nicht nur ein wirk­lich­keits­na­hes, son­dern auch ein schö­nes Bild von der Welt zu bekommen.

Die Bil­der im Kopf (»images«) ent­ste­hen also aus ele­men­ta­ren For­men, die in Hin­blick auf das vor­ge­ge­be­ne Gan­ze ange­ord­net wer­den, und genau die­sen Vor­gang nennt man Malen. Wie stark das Gan­ze dabei mit­wirkt bzw. wie sehr die Erzeu­gung von gan­zen Bil­dern zur Auf­ga­be des Gehirns gehört, erkennt man in der Neu­ro­phy­sio­lo­gie zum Bei­spiel bei der Ana­ly­se von Aus­falls­er­schei­nun­gen, die im Bereich der Sin­ne bzw. in ein­zel­nen Abschnit­te des Ner­ven­sys­tems auf­tre­ten kön­nen und in nicht zu schwe­ren Fäl­len vom intak­ten Gehirn kom­pen­siert werden.

Die­ser Aspekt, der Schü­lern auch mit Hil­fe des Blin­den Flecks auf der Netz­haut vor­ge­führt wird, konn­te schon vor der sys­te­ma­ti­schen Beob­ach­tung patho­lo­gi­scher Fäl­le erkannt wer­den, und zwar im Rah­men der Gestalt­psy­cho­lo­gie, die nach einer kur­zen Blü­te­zeit in den frü­hen Jahr­zehn­ten unse­res Jahr­hun­derts lan­ge Zeit über­se­hen oder gar ver­ges­sen wur­de und erst in letz­ter Zeit wie­der ver­mehrt Auf­merk­sam­keit bekommt. Die frü­hen Gestalt­psy­cho­lo­gen wie Max Wert­hei­mer, Wolf­gang Köh­ler und Wolf­gang Koff­ka haben damals auf die akti­ve »Orga­ni­sa­ti­ons­leis­tung« des Gehirns hin­ge­wie­sen, durch die unse­re Wahr­neh­mung in der Lage ist, zeit­lich, räum­lich, for­mal oder mate­ri­ell benach­bar­te Rei­z­ele­men­te (Tei­le der Wirk­lich­keit) so zusam­men­zu­fas­sen oder zu grup­pie­ren, daß der Ein­druck eines Gan­zen – eines voll­stän­di­gen Bil­des – ent­steht, das vom Bewußt­sein als Gestalt erkannt und bezeich­net wird.[14] Die Bestre­bung des Gehirns, in der sicht­ba­ren Natur Gestal­ten aus­zu­ma­chen, ist so groß, daß man bekannt­lich auch dort Gestal­ten – wie das Gesicht im Mond oder Pro­fi­le in Wol­ken – erblickt, wo in Wirk­lich­keit kei­ne sind. Inzwi­schen führt die Lite­ra­tur ver­schie­de­ne Gestalt­ge­set­ze an – zum Bei­spiel die Geset­ze der Nähe, der Geschlos­sen­heit, der Ähn­lich­keit, der Durch­gän­gig­keit und der Prä­gnanz –, die in wis­sen­schaft­li­cher Form deut­lich machen, daß die sinn­li­che Wahr­neh­mung der Wirk­lich­keit als akti­ver und krea­ti­ver Vor­gang dem Bewußt­sein voll­stän­dig gestal­te­te Bil­der lie­fert, mit dem das begriff­li­che Erken­nen sei­nen Anfang neh­men kann. Die Ästhe­tik ist die Vor­ga­be für das Nach­den­ken, das nicht ohne Bil­der in Akti­on tre­ten kann und immer auf das hier Gestal­te­te Bezug neh­men muß.