VIII. Der Wert des Embryos

Erforsch­te und ande­re Din­ge bekom­men ihren Eigen­wert nicht durch ratio­na­le Begrif­fe, son­dern durch ästhe­ti­sche Bemü­hun­gen. Die künf­ti­ge Wis­sen­schaft bekommt erst dann eine all­ge­mein zugäng­li­che und ver­ständ­li­che ethi­sche Dimen­si­on, wenn sie ver­sucht, die Natur weni­ger mit Begrif­fen und mehr mit den Sin­nen zu erfas­sen, und zwar so, daß sich dabei ihre Schön­heit zeigt. Lei­der ver­sucht man im Rah­men der heu­te akti­ven Umwelt­schutz­be­we­gung zum Bei­spiel (noch) nicht, die Natur zu bewah­ren, weil sie schön ist, son­dern weil sie beschä­digt und also häß­lich gewor­den ist. Ein über­zeu­gen­der Umgang mit der Umwelt muß und kann aus ästhe­ti­schen Quel­len kom­men. Das Bewah­rens­wer­te muß durch sei­ne Schön­heit wahr­ge­nom­men wer­den, die sich über die Sin­ne erschließt.

Ein in die­sem Sin­ne ästhe­tisch ori­en­tier­te Wis­sen­schaft, in der das Wahr­neh­men von Bil­dern und damit die sinn­li­che Form des Erken­nens der logisch-ver­stan­des­ge­mä­ßen Form gleich­be­rech­tigt an die Sei­te gestellt wird, könn­te auch einen Bei­trag zu der sei­ner­zeit (im Som­mer 2001) hohe Wel­len schla­gen­den und selbst das Par­la­ment auf­wüh­len­de Debat­te über Stamm­zel­len, Embryo­nen und eine neue Form der medi­zi­ni­schen Dia­gnos­tik lie­fern, die unter dem Stich­wort Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik (PID) geführt wird. Das zuletzt genann­te Ver­fah­ren wen­det sich künst­lich befruch­te­ten Eizel­len zu, die zuerst in einer Scha­le im Labo­ra­to­ri­um her­an­wach­sen und anschlie­ßend einer Frau ein­ge­setzt (implan­tiert) wer­den sol­len, in der dann zuletzt – wenn alles gut geht – ein Kind her­an­wächst. Das umfas­sen­de Ver­fah­ren der »In-vitro-Fer­ti­li­sa­ti­on« (IVF) wur­de ent­wi­ckelt für Paa­re, die sich ihren Kin­der­wunsch nicht auf dem übli­chen Weg erfül­len kön­nen, und die PID lie­fert zusätz­lich die Mög­lich­keit, unter den befruch­te­ten und sich tei­len­den Eizel­len die­je­ni­gen aus­zu­wäh­len, die am wenigs­tens gene­tisch belas­tet sind (wenn man es neu­tral aus­drückt) und die größ­te Hoff­nung auf ein gesun­des Kind bie­tet. In dem geschil­der­ten Ablauf las­sen sich vie­le ethi­sche Schran­ken ent­de­cken, die auf der­zeit täg­lich vie­len Zei­tungs­sei­ten geschlos­sen oder geöff­net wer­den. Dabei geht es vor allem und wie­der­holt um die Men­schen­wür­de des Zell­ge­bil­des, das da in einer Scha­le her­an­wächst und ein Mensch wer­den kann (oder will?). Von wel­chem Zeit­punkt an – so die viel­fach gestell­te Fra­ge – han­delt es sich bei den sich tei­len­den Zel­len um mensch­li­ches Leben, das dann – wenigs­tens zum Teil – sei­ne beson­de­re Wür­de hat und somit auch unter dem Schutz des Staa­tes steht? Ist ein Embryo schon ein Mensch oder eher noch ein Zellhaufen?

Trotz all des Geschrie­be­nen zum The­ma mit nahe­zu unend­lich vie­len Wor­ten und Begrif­fen ist eine Eini­gung unter den strei­ten­den Par­tei­en – Poli­ti­ker, Ethi­ker, Bio­lo­gen, Chris­ten, Gewerk­schaft­ler, Unter­neh­mer und vie­le mehr – nicht ein­mal in Ansät­zen in Sicht, wobei ein His­to­ri­ker anmer­ken könn­te, daß die Debat­te nicht neu ist und im Prin­zip bereits mit Pla­ton und Aris­to­te­les begon­nen hat, bei denen es schon um die Fra­ge ging, was mehr zählt, der Wert eines Indi­vi­du­ums oder der Wert einer Gemein­schaft. Nie­mand braucht sich dar­über zu wun­dern, daß die alten Gegen­sät­ze der Bewer­tung nicht plötz­lich durch ein neu­es Argu­ment mit Begrif­fen ver­schwin­den. Die Gegen­sät­ze wer­den viel­mehr solan­ge bestehen blei­ben, solan­ge man nur mit Wor­ten treff­lich strei­tet und das ästhe­ti­sche Ele­ment kei­ne ange­mes­se­ne Beach­tung fin­det und mit­spie­len darf. Wie soll denn aus Wor­ten das geeig­ne­te Han­deln flie­ßen? Wir wer­den doch nur dann zu mora­lisch han­deln­den Wesen, wenn wir ein Gegen­über durch sei­ne indi­vi­du­el­le Beson­der­heit wahr­neh­men und erken­nen kön­nen, wie seit Aris­to­te­les bekannt sein könn­te und wie jeder von sei­nen eige­nen Erfah­run­gen her weiß. Anders aus­ge­drückt für den kon­kre­ten Fall der PID: Ein Zell­hau­fen ohne jede Struk­tur (Form) löst in einem Betrach­ter kei­ne Reak­tio­nen her­vor, die mora­li­sche Kon­se­quen­zen hät­ten, und zwar selbst dann nicht, wenn er in wis­sen­schaft­lich fun­dier­ten Wor­ten zu sagen weiß, war er vor sich sieht und hat, näm­lich Zel­len, die ein huma­nes Genom beher­ber­gen. Man weiß sich doch erst dann ange­mes­sen zu ver­hal­ten, wenn etwas über die Wor­te hin­aus wahr­ge­nom­men wer­den kann, wenn sich eine Form zeigt, die in dem Betrach­ter den wer­den­den Men­schen erken­nen läßt und Mit­ge­fühl her­vor­ruft. Die­se Dis­po­si­ti­on läßt sich nicht von außen anord­nen. Sie bil­det sich eigen­stän­dig im Indi­vi­du­um als ästhe­ti­sche Reak­ti­on. Dabei hel­fen weder Begrif­fe noch Insti­tu­tio­nen, selbst wenn sie eine beson­de­re Nähe zu Gott für sich in Anspruch neh­men. Eine ethi­sche Ent­schei­dung, die nach ästhe­ti­schen Gesichts­punk­ten getrof­fen wird, könn­te kla­rer und unstrit­ti­ger nicht sein. Sie erschließt sich unmit­tel­bar in der Anschau­ung (»Sieh hin und du weißt«) und kommt wei­ter als vie­le Debat­ten mit noch mehr kom­pli­zier­ten Begrif­fen, die sich bekannt­lich wider­spre­chen müs­sen und allein des­halb die meis­ten Men­schen nicht erreichen.

IX. Die kunst­mä­ßi­ge Natur

Wenn (schö­ne) Bil­der zu sehen sind, taucht unwill­kür­lich die Fra­ge nach der Kunst auf. Die Natur tritt uns auf vie­len Bil­der frag­los wie ein Kunst­werk oder ein Orna­ment ent­ge­gen, und dies wirft die Fra­ge nach der Zuge­hö­rig­keit zur Kunst auf. Sie läßt sich auf kei­nen Fall mit ein paar Bemer­kun­gen erle­di­gen, außer mit der­je­ni­gen, die Kant in sei­ner »Kri­tik der Urteils­kraft« gemacht hat. Hier heißt es, daß Natur dann schön ist, wenn sie aus­sieht wie Kunst, und daß auch umge­kehrt Kunst dann schön ist, wenn sie aus­sieht wie Natur.

Ein Kunst­werk benö­tigt zu sei­ner Bestim­mung natür­lich mehr Kri­te­ri­en als das der Schön­heit. Ein­sich­tig ist auf jeden Fall, daß die Natur in den tech­ni­schen Bil­dern der Wis­sen­schaft eine Form bekom­men kann, die sie »kunst­mä­ßig« macht, wie es Fried­rich Schil­ler in sei­ner Schrift »Kal­li­as oder über die Schön­heit« aus­drückt, um so den zen­tra­len Satz sei­ner Ästhe­tik zu for­mu­lie­ren, »Schön­heit ist Natur in der Kunstmäßigkeit«.